Wenn man sich in der autistischen Community umhört, dann wird vielfach das Thema „Traumata“ angesprochen. Es entsteht schnell der Eindruck, dass nahezu alle autistischen Menschen auf irgendeine Art und Weise ein Trauma erlebt haben. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich zumindest bestätigen, dass Traumata unter Autist•innen (Autisten) weit verbreitet sind. Ich lese ständig von traumatisierenden Erlebnissen und in der Folge von komorbiden Erkrankungen. Je nach Studie haben autistische Menschen eine über 90% Wahrscheinlichkeit dafür, Diagnosen wie Angststörungen, Depressionen, Essstörungen u. ä. zu entwickeln, außerdem berichten viele autistische Menschen von chronischen Schmerzen.
Wie es zu einem Trauma bei autistischen Menschen kommen kann, ist sehr unterschiedlich, wobei es sich hier nicht ausschließlich um allgemein bekannte Auslöser handeln muss. Um zu verdeutlichen, wie vulnerabel wir sind, eine traumatisierende Situation zu erleben, möchte ich sie im Folgenden konkret aufführen und ggf. erläutern, insofern sie nicht selbsterklärend sind. Einige dieser Situationen wären für alle Menschen traumatisierend, andere wirken sich spezifisch bei autistischen Menschen in der Form aus:
- Körperliche und psychische Gewalt in Einrichtungen, Kindertagesstätten, Wohngruppen und Wohnheimen, (Tages-) Kliniken, Schulen, Arbeitsstätten und der Herkunftsfamilie
- Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz
- Soziale Isolation und Ausgrenzung
- Wiederkehrende negative Erfahrungen im sozialen Kontakt
- Anpassungsdruck bzw. erzwungene Anpassung in Verbindung mit Masking
- Dauerhafte Überforderung
- Autistisches Burnout
- Dauerhaftes infrage stellen der autistischen Wahrnehmung
- Generell grenzüberschreitendes Verhalten von Dritten
- Sexueller Missbrauch
- Toxisches Verhalten von Familienmitgliedern, Partner•innen, Freund•innen und Kolleg•innen (Partner, Freunde, Kollegen)
- Parentifizierung (Rollenumkehr von Eltern und Kindern, geschieht beispielsweise wenn (autistische) Kinder mit dem Gefühl aufwachsen, den Eltern keine Belastung sein zu dürfen)
- Stigmatisierung
- Permanentes „Kleinhalten“ – ein Umfeld, welches einem nichts zutraut und dadurch Entwicklung verhindert oder hemmt
- Diskriminierung in allen Formen (durch Personen oder auch durch Institutionen und Strukturen)
- Willkürliches Handeln durch das Hilfesystem oder Behörden
- Machtgefälle und Abhängigkeiten innerhalb des Hilfesystems
- Schädliche (Pseudo-) „Therapien“: ABA, AVT, ESDM, Festhaltetherapie, MMS
- Entwurzelung zb. durch erzwungene Wechsel in Einrichtungen
- Späte Diagnose und dadurch mit dem Gefühl aufzuwachsen oder zu leben, nicht dazuzugehören, falsch zu sein, nicht gesehen zu werden
- Erschwerter Zugang zu ärztlicher Versorgung und die Problematik von Ärzt•innen (Ärzten) nicht ernst genommen zu werden.
- Sensorische Überlastung
- Erschwerter Zugang zu Kommunikation, Unterdrückung oder Missbilligung der gewählten Kommunikationsform
- Tod einer Bezugsperson
- Erzwungene Medikation zum Ruhigstellen (nicht zu verwechseln mit Medikation, die eine tatsächliche Entlastung bringt)
Autistische Personen sind also einer Vielzahl an traumatisierenden Situationen ausgesetzt, was oftmals auch zur Folge hat, dass es nicht bei einer dieser Situationen bleibt. Viele berichten von multiplen Faktoren, die zu einer oder mehrerer Traumatisierungen führten. Immer wieder werden diese auch nicht direkt als Trauma erkannt, gerade auch, da in einer neurotypischen Gesellschaft das Bewusstsein für autistisches Erleben (zb bei sensorischer Überlastung) leider nicht sehr ausgeprägt ist. Auch die Betroffenen selbst wissen in vielen Fällen nicht, dass ihr Erleben valide ist, und gestehen sich Leidensdruck nicht zu (insbesondere dann nicht, wenn durch jahrelanges Training das Masking alle Anzeichen nahezu unterdrückt).
Was das Umfeld oder die Betroffenen selbst wahrnehmen, sind die Auswirkungen, die früher oder später fast immer zu Tage treten: Angststörungen, Zwangserkrankungen, Essstörungen, chronische Schmerzen, Depressionen, Bipolare Störungen, Schulverweigerung, herausforderndes Verhalten, Schlafstörungen, PTBS, Panikattacken, Flashbacks. Die Kombination aus Autismus, Trauma und komorbiden Diagnosen erschwert es zusätzlich an verschiedenen Bereichen des Lebens teilzuhaben. Autistische Verhaltensweisen/Merkmale können dann durchaus auch offensichtlicher auftreten, da der dauerhaft hohe Stresslevel Kapazitäten bindet und diese somit im Alltag fehlen. Kompensation wird auf Dauer immer weniger möglich.
Da dies aber oft auch ein schleichender Prozess ist, führt das in der Folge immer wieder dazu, dass dieser Leidensdruck erst nicht anerkannt wird. „Früher ging es doch auch.“ Dabei ist vor allem zu beachten, dass die multiplen Faktoren sich über einen längeren Zeitraum auswirken und es oftmals nicht bei diesen bleibt, sondern zum einen neue Faktoren hinzukommen und zusätzlich die Alltagsbelastungen mit zunehmendem Alter steigen. Auch wenn Außenstehende, aber auch viele Betroffene selbst nicht verstehen, warum sie plötzlich weit weniger Kapazitäten haben, schneller erschöpft sind und sich somit der gesamte Alltag schwieriger gestalten lässt, so ist es bei Betrachtung all dieser Faktoren im Grunde logisch.
Wie sich Trauma auf den Alltag als autistische Person auszuwirken kann, ist sehr komplex. Leider gibt es an dieser Stelle eine eklatante Unterversorgung. Therapeut•innen (Therapeuten) kennen sich meist schon nicht mit dem autistischen Spektrum aus, in Verbindung mit Traumata gibt es noch weniger Anlaufstellen. Auch im Hinblick auf diskriminierende Strukturen im ganzen therapeutischen/diagnostischen Prozess entstehen zusätzliche Barrieren, die den Zugang zu Hilfen erschweren. Da teilweise sogar noch die Ansicht existiert, wir Autist•innen hätten keine Gefühle, glauben auch manche Menschen, wir könnten nicht traumatisiert werden. Das Gegenteil ist aber der Fall: Wir sind durch die Vielzahl der Faktoren wesentlich vulnerabler.
Wenn es um die Diagnostik geht, macht es dieses Zusammenspiel ebenfalls nicht leichter, denn ein Trauma kann durchaus auch mit autistischen Verhaltensweisen einhergehen. Auch deswegen muss sich im Bereich „Autismus und Trauma“ noch einiges tun, um endlich eine umfassende Versorgung gewährleisten zu können.
Anmerkung: Nicht alle autistischen Personen entwickeln infolge dieser Erlebnisse ein Trauma. Individuelle Rahmenbedingungen und eigene Ressourcen bedingen und beeinflussen, wie eine Person auf die oben aufgeführten Situationen reagiert.