Die Reportage „Warum Kinder keine Tyrannen sind“

Die Reportage

Aktuell könnt ihr euch die Reportage „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ in der Mediathek der ARD ansehen. Es geht hier um den Kinderpsychiater Michael Winterhoff, dessen Theorie, warum wir unsere Kinder zu Tyrannen erziehen, und wie sich dies auf seinen Alltag in der Arbeit mit Kindern und ihren Eltern auswirkt. 

(Aber hier gilt eine Triggerwarnung)

Im Bericht werden Eltern und Kinder interviewt, die in der Praxis von Michael Winterhoff „diagnostiziert“ und „behandelt“ wurden. Auffällig oft wird dabei die Diagnose frühkindlicher Narzissmus gepaart mit einer Entwicklungsstörung und einer symbiotischen Beziehung zu einem Elternteil diagnostiziert. Die Kinder wären emotional nicht erreichbar und würden sich aufgrund dessen im Alltag verweigern und die Konfrontation suchen. Ziel sei es, die Kinder emotional wieder erreichbar zu machen. Den Eltern wird zunächst immer suggeriert, dass ihr Umgang mit dem Kind der falsche Weg sei, und dass grundsätzlich eine medikamentöse Unterstützung von Nöten sei. Diese erfolgt nahezu immer durch ein starkes Neuroleptikum, das ich aus der Arbeit mit schwerst psychisch kranken Menschen kenne (Schizophrenie, Psychosen). Laut Herrn Winterhoff sei das Medikament nebenwirkungsfrei. Den Kindern und ihren Eltern fiel jedoch immer eine ganze Reihe an Nebenwirkungen auf: Extreme Müdigkeit, Gewichtszunahme und geistige Abwesenheit. Dieses Medikament wird vor allem deswegen eingesetzt, um Betroffene zu sedieren. Laut Winterhoff ist das der Effekt, der die Kinder dann emotional zugänglich mache. Die Bedenken der Eltern wurden nahezu immer beiseite geschoben, auch gab es, laut einigen Aussagen, keinerlei Beaufsichtigung hinsichtlich der Blut- und Herzwerte. Etwas, was im Normalfall alle 3-6 Monate kontrolliert werden muss. 

Teilweise wurden sogar Kinder, die bei der Aufnahme in eine Einrichtung als angepasst galten (was  auch so dokumentiert wurde) mit diesem Medikament behandelt, mindestens in einem Fall ohne Wissen des damaligen Vormunds. 

Im Gegensatz zur Realität erklärte Herr Winterhoff in zahlreichen Talkshows, dass eine Medikation in solchen Fällen kontraindiziert wäre. Ohnehin nahm er zahlreiche Auftritte wahr, bei denen er sich schon regelrecht als Messias präsentierte. 

Auffällig oft fühlten sich die Eltern in ihren Fähigkeiten als solche sehr negativ bewertet und ihnen die Schuld am Verhalten ihrer Kinder zugesprochen. Eine wirkliche Diagnostik fand nicht statt, auch bekamen die Eltern keine vollständigen oder aussagekräftigen Diagnose-Schreiben. Eltern wurden zutiefst verunsichert, während die Kinder durch die Medikation ruhig gestellt wurden, und dabei meist völlig überdosiert waren. Laut eines Facharztes muss sich dieser Umstand für die Kinder so angefühlt haben, als wären sie fortwährend in einer Zwangsjacke eingesperrt gewesen. Solche Erlebnisse führen nicht selten zur Ausbildung von Traumata. Einige Kinder wurden über viele Jahre mit diesem Medikament ruhig gestellt, obwohl es laut Facharzt nur indiziert wäre, um kurzfristig eine Krise zu durchbrechen.

In einigen Fällen setzten sich die Eltern gegen eine derartige Medikation ein, was zur Folge hatte, dass sie von Winterhoff und teilweise von JugendamtsmitarbeiterInnen unter Druck gesetzt wurden. Im Falle eines Absetzen des Medikaments würde man ihnen eine Kindeswohlgefährdung unterstellen.

Auch wurden Kinder im frühen Grundschulalter immer wieder mit Aussagen konfrontiert, die ihnen einen Narzissmus unterstellten, meist nach wenigen Minuten im Gespräch. Ihnen wurde vermittelt, dass sie schlechte Menschen seien. 

Herr Winterhoff propagiert bei seinen Auftritten immer wieder Vorgehensweisen, die dem Narzissmus der Kinder entgegenwirken sollen. Manches klingt im ersten Moment vermeintlich harmlos, wenn man sich dann aber die Umsetzung in entsprechend angeschlossenen heilpädagogischen Einrichtung anschaut, dann erkennt man schon nahezu menschenverachtende Methoden dahinter. Kinder durften beispielsweise nur drei Sätze am Tag an einen Erwachsenen richten. Die Einrichtung verweist an dieser Stelle darauf, das wäre eine vom Kind selbst gewählte Regel. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass Kinder sich eine solche Regel selbst wählen, und wenn doch, dann sollte man die Umstände an dieser Stelle wirklich hinterfragen.

Einige Betroffene berichteten von grenzüberschreitendem Verhalten während des Kontakts mit Winterhoff. Dieser rechtfertigte diverse Methode mit gängigen Diagnoseverfahren. Diese Verfahren werden zwar angewandt, beispielsweise bei einer Hodenfehlstellung, aber nicht im kinderpsychiatrischen Bereich! 

Michael Winterhoffs Einfluss geht soweit, dass er Eltern, die sich gegen seine Behandlung aussprechen, die Erziehungsfähigkeit abspricht und das auch an MitarbeiterInnen der Jugendhilfe so weitergibt. Er empfiehlt in solchen Fällen ganz konkret den Entzug des Sorgerechts. Selbst Personen, die in ihrer Funktion als Vormund diese Behandlung hinterfragen oder gar eine Zweitmeinung anstreben, werden in der gleichen Weise bei offiziellen Stellen diskreditiert. 

Im Nachgang wurde einigen Kindern sogar bescheinigt, dass sie keine schwere psychische oder neurologische Erkrankung bzw. Störung haben. Wieder andere konnten endlich einen anständigen Diagnose-Prozess durchlaufen und erhielten anschließend beispielsweise eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum. 

Diverse FachärztInnen widersprechen Winterhoff und seinen Behandlungsmethoden, sie sind weder moralisch noch wissenschaftlich nachzuvollziehen. 

Die Gesellschaft und wie sie Winterhoffs Theorien hofiert: 

Michael Winterhoff ist präsent, zahlreiche Talkshow-Auftritte legitimieren seine Ansichten und sein Vorgehen. In der breiten Gesellschaft finden seine Theorien durchaus sehr viel Anklang, was nicht zuletzt dazu führt, dass Betroffene Familien zutiefst verunsichert werden. 

Die Beziehung zum Kind wird als Machtspiel begriffen, bei dem die erwachsene Person als diejenige gilt, die grundsätzlich über dem Kind steht und Macht ausübt. Das Kind hat sich unterzuordnen. Tut es das nicht, sind die Eltern in ihrer Erziehung nur nicht konsequent genug, unterstützen ihr Kind noch in seinem herausfordernden Verhalten und müssen nur mehr streng reagieren. Sie sind es, die dem Kind mit ihrer laschen Erziehung den Narzissmus anerziehen. Das Kind wird zum Tyrannen. Das trifft bei vielen einen Nerv, sie fühlen sich bestätigt in ihrem Machtgehabe Kindern gegenüber. Wieder anderen wird permanent suggeriert, dass sie schuld sind, wenn ihr Kind sich so aufsässig benimmt. Fast alle Eltern, deren Kinder eine Diagnose wie Autismus oder ADHS bekommen, wird dies über Jahre hin eingetrichtert. Sie sind verunsichert und erhoffen sich im System der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hilfe. Leider wird in zu vielen Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie genau so verfahren, wie man es in der Reportage sieht. Eltern wird suggeriert, dass die dort wissen müssen, wie es geht. Nichts wird so konstant vermittelt, wie das. „Wir wissen, warum ihr Kind sich so verhält, und wir haben die Lösung parat.“ Viele Eltern sehen keinen Grund, genau das zu hinterfragen. Ein Austausch mit den Eltern auf Augenhöhe findet oft nicht statt. Es entsteht ein sehr ungünstiges Abhängigkeitsverhältnis. Dabei, wenn man mal genauer hinschaut, wird überhaupt nicht eruiert, warum ein Kind sich so verhält. Das Verhalten ist das Problem und das gilt es abzustellen. Das Ziel ist eine Anpassung an Normen, die genau dort definiert werden. Diese Normen werden nicht hinterfragt und erst nicht werden sie überdacht. Es gibt ein Schema und in dieses muss man passen, wenn nicht, werden Kinder nicht selten ruhig gestellt, sediert, in Time-Out-Räume eingesperrt oder gewalttätigen „Therapien“ unterzogen. Das Ziel ist im Grunde eine Anpassung durch Aufgeben. Das ursächliche Problem wird weiter nicht thematisiert. Kinder lernen nur mehr, dass sie Inder Gegenwart von Erwachsenen nicht sicher sind. Sie verhalten sich nicht anders, weil sich das ursächliche Problem gelöst hat, sondern weil sie aufgeben und Angst haben. 

Menschen wie Michael Winterhoff können sich gut darstellen und argumentieren, sie wissen, wie sie reden und vermeintliche Sachverhalte darlegen müssen, damit sie beim Gegenüber überhaupt nicht in Frage gestellt werden. Menschen, die nie mit Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Jugendhilfe als Kostenträger zu tun hatten, hinterfragen solche Vorgehensweisen kaum. Warum auch? Es klingt ja alles auf den ersten Blick nachvollziehbar. Die Praxis, bzw. die Umsetzung an Kindern, die einen echten Leidensdruck und auch Hilfebedarf haben, sieht dann ganz anders aus. Sie ist gewaltvoll und missbräuchlich, und sie hinterlässt traumatisierte Kinder.