Weltautismustag 2022 – Warum die autistische Perspektive oft verdrängt wird

Anlässlich des Weltautismustages am 2. April dachte ich mir, ich schreibe einmal über ein Thema, das sicher nicht allen gefallen wird. Es geht um die autistische Sichtweise, warum sie so wichtig ist, wieso sie immer wieder verdrängt wird und warum das problematisch ist. Ganz wichtig für alle, die das lesen: Es geht hier nicht um Eltern- oder Fachkräfte-Bashing. Es geht um die Überpräsenz im Diskurs und warum das manchmal unerwünschte, wenn auch nicht unbedingt gewollte, Nebeneffekte hat.

Eigentlich soll es an diesem Tag ja um uns gehen, um uns Autist•innen. Stattdessen ist dieser Tag geprägt davon, dass Organisationen, Verbände, Vereine und verschiedene nicht thematisch verbundene Institutionen sich an diesem Tag dem Thema Autismus „widmen“, und das werbewirksam inszenieren. „Widmen“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Puzzleteile nur so fliegen und alles in blau angestrahlt werden soll. Das soll dann ein Bewusstsein für Autismus fördern. Abgesehen davon, dass diese Symbolik von vielen Autist•innen negativ assoziiert wird, und man darauf schon seit Jahren keine Rücksicht nimmt, stehen weniger diejenigen im Fokus, um die es geht, sondern vielmehr Eltern, Fachkräfte und Vertreter•innen einzelner Institutionen. Unserer Sichtweise wird an diesem Tag eigentlich wenig bis kaum Raum zur Verfügung gestellt. An diesem Tag erscheinen wieder etliche Artikel, aber tritt man hierfür an autistische Blogger•innen, autistische Eltern oder autistische Selbstvertreter•innen heran? Bis auf ein paar wenige prominente Ausnahmen ist dies leider nicht der Fall. Stattdessen gibt es dann beispielsweise wieder unzählige Artikel über Eltern, die von den Belastungen des Alltags mit ihrem autistischen Kind berichten. Berichte von autistischen Menschen und wie sich deren Alltag gestaltet, welche Belastungen und Barrieren es gibt, mit welchen Grenzen sie in Sachen Inklusion konfrontiert werden, und welches Potenzial sie sehen, sucht man meist vergebens.

Nicht nur an diesem Tag, sondern ständig, kämpfen wir darum, dass unsere Sichtweise nicht völlig verdrängt wird. Die Diskussionen, die während der Aufklärungsarbeit im Alltag entstehen, offenbaren ein völlig falsches Bild von Autismus und einen latenten, aber tief sitzenden Ableismus. Jeden Tag könnte ich Dutzende von Diskussionen (gerade auch mit Fachkräften) führen, bei denen mir wahlweise meine Behinderung erklärt wird (Ablesplaining), mir meine Kompetenzen abgesprochen werden und von fremden Menschen definiert wird, wo und wie hoch mein Hilfebedarf ist. Dabei vermischen sich Vorurteile mit einer gewissen Erwartungshaltung, wie behinderte Personen zu sein haben. Alles in allem habe ich oft den Eindruck, man hätte gerne, dass wir ehrfürchtig und dankbar den vielen kruden und unsinnigen Ausführungen über Autismus lauschen. Nur, Dankbarkeit und Ehrfurcht sind nicht gerade die Dinge, die man in den Momenten erlebter Diskriminierung, denn darum handelt es sich, verspürt. Gerade Eltern, die neu in dieser Thematik sind, bekommen oftmals dann auch nur die „Informationen“, die schlicht und einfach überholt sind. Da insbesondere aber Fachkräfte an diesen alten Vorurteilen festhalten, hat das nicht nur Auswirkungen auf die Diagnostik, sondern auch darauf, wie Eltern ihren Kindern begegnen.

Mittlerweile merke ich bei mir schon fast eine Art innerer Abwehr, wenn sich Menschen zu dem Thema äußern, die nicht selbst autistisch oder zumindest sehr vertraut mit dem Thema sind. Problem ist, dass gerade auch Fachpersonen, die sich oft für sehr vertraut mit dem Thema halten, oftmals sehr übergriffig und diskriminierend reagieren, und zudem eben auch an diesen althergebrachten Vorurteilen festhalten. Das ist nunmal nicht hilfreich.
Insbesondere auch dann, wenn man unterschiedliche, abweichende Positionen vertritt, kann es durchaus passieren, dass man mit Aussagen wie „Du reagierst nur aufgrund deines Autismus derart empfindlich“ zum Schweigen gebracht werden soll. Immer dann, wenn die Argumente ausgehen, oder wir aus Sicht von Außenstehenden zu selbstbestimmt auftreten, muss man damit rechnen, dass vermeintlich autistische Merkmale als „Waffe“ gegen uns eingesetzt werden. Wieder eine Diskriminierungserfahrung mehr… Auf Dauer ist das äußerst belastend und führt immer wieder dazu, dass Autist•innen sich aus der Selbstvertretung zurückziehen. Sie sind schlicht ausgebrannt und haben fortwährend das Gefühl, dass ihre Bemühungen, die immerhin mit viel emotionaler Arbeit verbunden sind, nicht fruchten. Keine autistische Person steckt die ständige Diskriminierung, Ausgrenzung und das Gefühl, fast „unsichtbar“ zu sein, so einfach weg.

Ein Aspekt, wieso Autist•innen innerhalb der Aufklärung so wenig Raum zur Verfügung steht, ist auch die Überpräsenz von Angehörigen. Ich weiß, das wollen jetzt viele überhaupt nicht gerne lesen. Es geht mir auch überhaupt nicht darum, dass die Aufklärungsarbeit von etlichen Eltern wirklich sehr wertvoll ist. Aber es ist nicht die Innenansicht. Die kann oftmals nur eine autistische Person plastisch wiedergeben. Natürlich profitieren Eltern davon und können diese Erkenntnis dann weiter geben, auch „lesen“ viele ihre autistischen Kinder sehr gut, aber es ist eben nicht das gleiche. Ich vergleiche das gerne mit dem Effekt der „Stillen Post“. Am Ende ist es vielleicht nur eine kleine Nuance, die für mich von größter Wichtigkeit wäre, während sie für andere möglicherweise nur ein Detail von vielen ist. Aber genau diese Nuance will ich transportieren. Ich will nicht, dass etwas untergeht. Zu oft bleibt einfach übrig, dass wir in der Hauptsache Probleme mit der Wahrnehmung von Reizen und Augenkontakt haben, um es mal ganz plakativ auszudrücken. Die Nähe zum autistischen Erleben macht noch kein autistisches Erleben.

Wenn ich mir zudem ansehe, was auch gerade auf manchen Elternblogs geteilt wird, bekomme ich manchmal durchaus Bauchweh. Einerseits ist da immer der Aspekt der Privatsphäre. Manche Eltern zeigen ihre Kinder in intimsten Situationen, während eines Meltdowns beispielsweise. Das sind äußerst verletzliche Momente, bei denen man sich immer fragen muss, ob man selbst so gezeigt werden wollte. Wenn ich über mich eine dieser Situationen öffentlich mache, ist das meine ureigene Entscheidung. Dann mache ich mich angreifbar, nicht das Kind. Zudem werden viele Autist•innen von derartigen Videos enorm getriggert.
Andererseits sind es eben doch elternspezifische Themen (was ja auch völlig nachvollziehbar ist). Natürlich ist es wichtig, darüber zu schreiben, auf welche Vorurteile Eltern beispielsweise treffen. Aber bei der Fülle an Angeboten, geht dann eben schnell unter, wie sich die autistische Perspektive dazu gestaltet. Zumal es sich eben oft so gestaltet, dass sich alleine mit der Aussage eines Elternteils, man habe ein autistisches Kind, meist mehr Aufmerksamkeit erzielen lässt, als mit der Beschreibung wie sich beispielsweise Anforderungsdruck bei den Hausaufgaben anfühlt, wenn man schon alle Energiereserven aufgebraucht hat.
Es ist völlig normal, dass das passiert, alles andere fände ich sogar befremdlich. Die eigene Perspektive soll ja nicht völlig untergehen und sie benötigt auch Raum. Das Problem dabei ist, dass Eltern natürlicherweise den Wunsch nach Zugehörigkeit haben. Das haben wir alle. Zugehörigkeit gibt einem das Gefühl, nicht alleine mit einem Problem, einer Situation zu sein. Die Lebensrealität von Eltern vieler neurotypischer Kinder ist eine andere, und da kommt man sich oft „unpassend“ vor. Also suchen viele Eltern vor allem Kontakt zu anderen Eltern, deren Alltag dem eigenen ähnelt. Das ist dann so etwas wie ein Safe Space. Dieser wird automatisch verlassen, sobald mal in Kontakt zu Autist•innen kommt. Das kann nämlich durchaus ein schwieriges Spannungsfeld sein. Eltern fühlen sich oft unverstanden, und gerade auch wenn wir Baustellen im Umgang mit dem autistischen Kind entdecken, die Eltern nicht bewusst sind. Auch ist die Sichtweise auf ein „Problem“ oft eine ganz andere, Lösungsansätze sind es meist erst recht. Nicht alle Eltern schaffen es, sich darauf einzulassen.
In Selbsthilfegruppen sind Eltern den autistischen Mitgliedern i.d.R. zahlenmäßig überlegen, und nehmen dadurch ebenfalls sehr viel Raum ein. Das verunsichert, ärgert und triggert auch einige autistische Mitglieder, insbesondere dann, wenn sie merken, dass dadurch etliche Vorurteile oder auch schädliche Tipps weiter gegeben werden. Nicht alle Gruppen werden gut moderiert. Viele autistische Mitglieder sind traumatisiert und haben dann genau für diesen Austausch keine Kapazitäten. Das bedeutet Rückzug und wieder einmal mehr das Verdrängen der autistischen Perspektive.
Natürlich trifft das nur auf einen Teil der Eltern zu, aber dennoch erschwert es den Kontakt immens. Das geht soweit, dass sich einige autistische Mitglieder nur dann sicher fühlen, wenn Eltern sich erst einmal nur im Hintergrund aufhalten. In vielen Gruppen, die die sich generell mit einer marginalisierten Gruppe beschäftigen, dürfen sich sogar (zumindest für eine gewisse Zeit) nur diejenigen zur Wort melden, die selbst betroffen sind. Dadurch geht ihre Perspektive nicht unter und sich fühlen sich sicher genug, diese emotionale Arbeit zu erbringen. Gerade wenn die eigenen Traumata mit dem direkten, persönlichen Umfeld im Zusammenhang stehen, gehört sehr viel Mut dazu, sich in einer Gruppe zu äußern, die zu einem großen Teil aus neurotypischen Eltern besteht. Das sollte nicht vergessen werden.
In unseren Gruppen legen wir sehr viel Wert auf die autistische Perspektive, aber auch darauf, Eltern einzubinden. Wir wollen Eltern nicht ausschließen, gerade auch, weil wir wissen, dass sie wertvolles Input geben können. Für Neulinge ist das manchmal ein kleiner „Kulturschock“, da hier oftmals autistische Kommunikationsweise auf eine Sicht auf Autismus trifft, die manchmal noch sehr negativ geprägt ist oder von alten Vorurteilen. Und Eltern müssen sich grundsätzlich ohnehin schon immer sehr viel Wertungen ihrer Erziehungsleistung anhören (das sind die Vorurteile, mit denen Eltern konfrontiert werden). In genau dieser Stimmung treffen sie auf uns. Das heißt, auch Eltern können schnell angetriggert werden. So hat man automatisch ein Spannungsfeld, das nicht immer einfach aufzulösen ist, und das viel Konfliktpotenzial mit sich bringt.

Allgemein hat das aber eben automatisch zur Folge, dass im Bereich der Autismus-Aufklärung die autistische Perspektive nur minimalen Raum einnimmt. Dabei wäre es für viele Menschen extrem wertvoll, wenn sie ohne große Hürden in Kontakt mit autistischen Personen kommen: nämlich für Autist•innen selbst, das gilt für Kinder und Erwachsene. #RepresentationMatters – gerade in einer Gesellschaft, in der eben Autismus oft ein Randthema ist, Diskriminierung und Exklusion stattfinden, ist Repräsentanz und das Gefühl, nicht alleine auf dieser Welt zu sein, essenziell. Der Zugang zu meiner Community war für meine autistische Identitätsfindung prägend. Mein Kind, das zwei Jahre vor mir diagnostiziert wurde, erlebte eine wahre Offenbarung, als ich ebenfalls diagnostiziert wurde. Bis dahin gab es lediglich Kontakte zu anderen autistischen Kindern im therapeutischen Setting. Es war nie die Rede von autistischen Erwachsenen. Für mein Kind war es wichtig, zu wissen, dass es da draußen auch autistische Erwachsene gibt. Diesen Umstand kann man natürlich nicht auf jede Familie anwenden, aber man kann den Kindern durchaus auch davon berichten, wie viel Arbeit autistische Erwachsene leisten, um die Gesellschaft über Autismus aufzuklären. Es ist wichtig, dass sie dadurch eine gewisse Zugehörigkeit erfahren, und dass Dinge dadurch für sie normalisiert werden können.

Was hier im „Kleinen“ passiert, zieht sich wie ein roter Faden durch die Themen Behinderung, Inklusion und Aktivismus. Die Betroffenen selbst werden im Gegensatz zum größten Elternverband, von dem sich ohnehin die meisten Autist•innen nicht vertreten fühlen, oftmals nicht eingeladen, angehört oder gar angefragt. Das ist schon eine ganz besondere Art von Ignoranz gegenüber autistischen Menschen und ihrem berechtigten Wunsch, für sich selbst zu sprechen.

Natürlich ist das Thema von vielen Seiten zu betrachten, auch von der Elternseite aus, und natürlich ist es das gute Recht, jeder einzelnen Person, aufklärend tätig zu sein. Viele Eltern leisten gute und wertvolle Arbeit. Aber der Preis ist eben, dass autistische Stimmen immer im Hintergrund bleiben. Das kann doch niemand wollen. Oder, und es ist mir bewusst, dass das provozierend klingt, vielleicht doch? Es gibt sie nun mal, diese Angehörigen, die sich auf dem Rücken ihrer autistischen Familienmitglieder profilieren. Es gibt eben die, die wirklich schlimme Vorurteile verbreiten, mit ihrem Verhalten zu Retraumatisierungen beitragen, auf erzwungene Anpassung durch schädliche Therapien setzen (ABA, ESDM, AVT), oder aktiv versuchen, autistische Aktivist•innen aus dem Diskurs auszuschließen. Es gibt diese Elternvereine, die genau für diese Art „Therapie“ nahezu Lobbyarbeit betreiben (zb die ABA-Eltern). Es gibt die, die ihren Kindern Einläufe mit Chlorbleiche verpassen und das anderen Eltern empfehlen. Es gibt die, die der Meinung sind, dass wir ja gar nicht für alle sprechen könnten (was eigentlich niemand für sich beansprucht), gleichzeitig aber selbst für sich in Anspruch nehmen, genau das tun zu können, ja zu müssen. Meist ist dann ein autistisches Kind mit hohem Hilfebedarf im Hintergrund, und während sich solche Eltern Hilfe zur Abhilfe wünschen, sind dann eben die Autist•innen häufig diejenigen, und auch manchmal die einzigen, die dieses Kind im Blick haben. Manchmal sind Eltern die ersten Menschen im Leben eines autistischen Kindes, die ihr Kind diskriminieren und mobben. Es sind eben auch diese Eltern, die im Diskurs viel Raum einnehmen und die autistische Selbstvertretung zu verdrängen versuchen, denn sie haben keinerlei Interesse daran, dass autistischer Selbstvertretung mehr Einfluss zugestanden wird. Und es gibt genauso einen einflussreichen Anteil an Fachkräften, die genau diese Vorgehensweise unterstützen. Behaviorist•innen beispielsweise müssten sich einer breiten Kritik durch Autist•innen stellen, sie – aber auch viele andere – müssten ihre grundsätzliche Haltung autistischen Menschen gegenüber hinterfragen und überdenken. Wenn man auf Augenhöhe begegnen würde, dann gibt man automatisch die eigene Position innerhalb eines Machtgefälles auf, anders kann es keine Begegnung auf Augenhöhe geben.

Deswegen ist es für alle Autist•innen umso wichtiger, dass sie von den eigenen Leuten empowert werden. Und es ist meiner Ansicht nach auch sehr wichtig, wenn sie darin von Angehörigen unterstützt werden. Glücklicherweise gibt es diese Form der Unterstützung für uns, und sie ist ein wesentlicher Baustein für autistische Selbstvertretung. Diese Menschen wissen auch, wann es wichtig ist, sich zurück zu nehmen. Sie unterstützen uns, ohne uns zu verdrängen. DAS würde ich mir viel öfter wünschen. Denn wir brauchen Sichtbarkeit! Am Weltautismustag haben wir diese aber nur sehr eingeschränkt.