„Das kenne ich von mir aber auch.“

Wenn man über Autismus bei sich oder beim eigenen Kind berichtet, sich im Alltag darüber unterhält oder versucht aufzuklären, dann sind gewisse Reaktionen meist unvermeidlich: „Das kenne ich von mir aber auch“ oder „Das macht mein Kind auch“. Diese Aussagen gehören zu den Dingen, die viele Betroffene und Angehörige sehr verletzen, auch wenn es so nicht gemeint ist. Ich bin mir sogar sicher, dass es in den meisten Fällen durchaus bewusst eingesetzt wird, um Betroffenen etwas Gutes zu tun. Deswegen: bitte die folgenden Zeilen nicht als Angriff sehen, sondern als ein Aspekt in der Aufklärung, und eine Möglichkeit, autistischen Menschen und ihren Angehörigen empathisch zu begegnen. Dann können Missverständnisse und verletze Gefühle auf beiden Seiten vermieden werden. 

Ich denke grundsätzlich also zu wissen, warum das passiert: Der Impuls, eine gewisse Nähe herzustellen, oder den Eindruck zu vermitteln, dass man verstanden wird, ist sicher ein großer Aspekt hierbei. Auch will man vielleicht aufmuntern und deutlich machen, dass alles doch gar nicht so schlimm ist, wie es manchmal erscheint. Es soll sicher auf eine Art beruhigen, gerade bei Eltern, die noch keine Diagnose für ihr Kind bekommen haben. Sie werden dann aber meist noch mehr verunsichert und ihnen wird dabei häufig auch ein Stück weit suggeriert, dass sie sich Dinge einreden oder übertreiben. Manchen Eltern wird gar unterstellt, dass sie sich für ihr Kind eine Behinderung wünschen würden, oder diese herbeireden (ja, auch das passiert leider immer wieder). 

Es geht mir nicht um einen Wettkampf, wem es schlechter geht, wer mehr Grund hat, mit einer Situation zu hadern, oder Ähnliches. Wenn ich über diese Themen schreibe oder spreche, möchte ich sensibilisieren und Bewusstsein für Barrieren schaffen, denn es geht um die autistische Komponente hierbei, auch wenn die meisten Menschen sofort denken: „Das kenne ich aber auch“. Es geht um Akzeptanz und Verständnis für die autismusspezifischen Aspekte dabei.

Man muss eine Situation nicht nachvollziehen können oder eine gewisse Nähe herstellen. Ich finde absolut nicht, dass das nötig ist. Es ist nicht schlimm, wenn man Dinge nicht nachvollziehen kann. Ich kann auch einiges nicht nachempfinden, was andere Menschen betrifft. Deswegen mag ich auch den Spruch „sind wir nicht alle ein bißchen autistisch“ überhaupt nicht. Es stimmt einfach nicht, genauso wenig wie man ein bißchen schwanger sein kann.

Die Wahrnehmung 

Die autistische Wahrnehmung von Reizen kann sensorisch unfassbar extrem sein. Das ist nicht vergleichbar mit einer normalen Abneigung gegen einen Geschmack beispielsweise. Andere Kinder fühlen sich beim Duschen nicht in der Art vom Wasser bedroht, weil es sich anfühlt wie tausend kleine Nadelstiche… Und das ist nur eines von Dutzenden möglichen Beispielen der sensorischen Probleme, die über den Tag auftreten, jeden Tag, immer wieder, ohne Pause. Egal ob es sich dabei um das Licht im Klassenraum, den Geruch des Frühstücks eines anderen Kindes, die Stimme einer anderen Person, die Sirene eines Krankenwagen, das Gefühl eines Kleidungsstückes auf der Haut, die visuellen Eindrücke durch bunte Bilder in einem Klassenraum, das Geräusch des Schulbusses, das ständige Klingeln des Telefons drei Zimmer weiter, oder die unfassbare Menge an Menschen mitsamt sämtlichen Reizen und Emotionen , die sie transportieren, handelt. Die Liste ist endlos. Jeder einzelne Reiz kann so extrem sein, dass das ganze Denken davon beeinflusst wird. Die meisten Menschen nehmen einen Reiz oder einen Impuls zunächst wahr, aber mit der Zeit rückt dieser Stück für Stück in den Hintergrund, wird kaum noch wahrgenommen und spielt bei der Verarbeitung von Informationen quasi keine Rolle mehr. Bei autistischen Menschen funktioniert genau dieses Ausblenden nicht. Und nein, das hört nicht auf, wenn man erwachsen ist. Das zieht sich weiter durchs Leben, nur wird erwachsenen AutistInnen noch häufiger nicht geglaubt, ihnen ihre Wahrnehmung abgesprochen und auch grundsätzlich von ihnen erwartet, dass man ihnen nicht anmerkt, wie belastend der Alltag sein kann. 

Das heißt im Alltag, dass man Reize entweder partout versucht zu vermeiden, oder sie gezielt sucht. Es bedeutet, dass man nichts machen kann, ohne sich nicht permanent dieser Reize bewusst zu sein, während andere Menschen diese Reize eben ausblenden können. Es kann eben auch bedeuten, dass falsche oder zu viele Reize zu einem Zusammenbruch führen.

Es bedeutet auch, dass man auf viele Sicherheit gebende Dinge enorm angewiesen ist, während die meisten Menschen diese Dinge einfach nur tun, weil sie für sie angenehmer sind. Für uns sind sie der Grund, warum wir durch den Alltag kommen. Wenn wir diese Dinge im Alltag nicht beachten, dann sind unsere Kapazitäten um ein Vielfaches geringer, und das Kompensieren von alltäglichen Dingen erscheint unmöglich. Wenn wir also davon sprechen, dass wir ein und dieselbe Mahlzeit immer und immer wieder brauchen, dann meinen wir das ernst. Es gibt autistische Menschen, die essen deswegen lediglich eine Handvoll Lebensmittel, weil sie wirklich nicht anders können. Bei all den Dingen, die ich immer und immer wieder in mein Leben einbaue, die ich ständig wiederhole, hole ich mir entweder einen positiven Reiz, damit es mir besser geht, oder ich vermeide jeden negativen Reiz, damit ich keinen Meltdown bekomme. Sensorische Bedürfnisse sind eine Notwendigkeit und nicht einfach eine Vorliebe. Und das betrifft eben dann auch nicht nur einen minimalen Teil des Lebens, sondern es bestimmt sämtliche Abläufe, Planungen, einfach den gesamten Alltag. 

Soziale Interaktion 

Im Bereich der sozialen Interaktion bedeutet es, dass man die sozialen Regeln weniger oder gar nicht versteht. Nichts wird auf eine Art intuitiv oder instinktiv erlebt bzw. ausgeführt. Während für mich bei anderen immer alles so leicht aussieht, ist meine früheste Kindheitserinnerung dahingehend, dass ich mich immer völlig verloren und einsam fühlte, manchmal inmitten anderer Kinder. Ich verstand nicht, warum sie sich auf bestimmte Weise verhielten, und das tue ich bis heute nicht. Ich verstehe nicht, warum ich falsch sein soll, und das, was ich seit der Kindheit beobachte, „normal“ sein soll. Das Gefühl, fremd zu sein, hat sich in mir festgesetzt, und es besteht weiterhin. Ich liege oft abends im Bett und bekomme alleine wegen des Umstands, dass ich mich so derart fremd fühle, Panikattacken und Heulkrämpfe. 

Ich fühle mich ständig so, als hätte ich mit den wenigsten Menschen etwas gemeinsam, und das obwohl ich mittlerweile ein wirklich gutes Umfeld habe. Meine Lebensrealität hat mit der von anderen einfach so unglaublich wenig gemein. Der ständige Widerspruch zwischen dem Gefühl, sich überhaupt nicht anpassen zu wollen und gleichzeitig diesen tiefen Schmerz zu spüren, weil man sich so fremd fühlt, bestimmt mein Denken. 

Ständig bin ich unsicher, ob ich etwas falsch gemacht habe. Dadurch reflektiere ich soziale Situationen immer und immer wieder. Ich beobachte ständig Menschen, ihre Kommunikation und wie sie miteinander interagieren, nur um sie für mich etwas berechenbarer zu machen. Ich maskiere in sozialen Situationen, um anderen Menschen keine Angriffsfläche zu bieten, und um Zurückweisung zu vermeiden. Denn das ist etwas, was ich permanent erfahren habe. Wenn ich aber doch so „normal“ bin, dann frage ich mich, warum ich diese Erfahrung immer wieder machen musste. 

Ich verstehe viele Regeln nicht, obwohl ich sie anwenden kann, und man mir das nie anmerken würde. Durch mein Unverständnis bin ich immer wieder in Situationen geraten, die toxisch und missbräuchlich waren. Ich sehe weder kommen, dass so etwas passiert, noch wusste ich bis vor wenigen Jahren, dass ich mich hätte schützen dürfen. Ja, es war mir nicht einmal bewusst, dass Menschen sich falsch verhalten haben. Aber abgesehen davon hätte ich auch nicht gewusst, wie ich mich einer Situation entziehen kann. Ich hatte nicht einmal ein Gespür für meine eigenen Empfindungen. Ich habe nicht gemerkt, wenn ich etwas nicht wollte. 

Wenn alle Probleme, die autistische Kinder in der sozialen Interaktion haben, sich verwachsen, und ja irgendwie eh völlig normal sind, warum werden sie dann von so vielen Menschen, teilweise von der Familie, ausgegrenzt? Warum lädt man immer wieder Kinder zum Geburtstag ein, während das eigene Kind nie eingeladen wird? Warum haben sie nahezu alle Mobbingerfahrungen? Warum wohl suchen sehr viele autistische Menschen den absoluten Rückzug von Menschen? Das machen sie nicht, weil sie grundsätzlich keinen Kontakt zu Menschen wollen oder ihnen andere Menschen egal sind. Das machen sie, weil soziale Interaktion ihnen sämtliche Energien raubt, oder sie aufgrund der Erfahrungen mit anderen Menschen völlig traumatisiert sind, und soziale Kontakte damit schlicht mit unfassbar vielen Ängsten verbunden sind. Hinzu kommen dennoch sehr viele AutistInnen, die gerne Kontakte hätten, aber immer wieder ausgeschlossen werden. Und das passiert nunmal nicht, weil alle anderen sie als so „normal“ empfinden. Das passiert, weil sie autistisch reagieren, anecken, oftmals soziale Regeln nicht verstehen oder umsetzen können, und andere Menschen sie anstrengend, nervig oder zu „auffällig“ finden. 

Also…

Es hilft Betroffenen und ihren Angehörigen überhaupt nicht, wenn man solche Dinge sagt. Sie bagatellisieren und spielen sämtliche Erfahrungen im Alltag herunter. Und damit meine ich nicht nur das beschriebene Erleben, das Autismus mit sich bringt. Jede Diskriminierungserfahrung im Zusammenhang mit Autismus, jeder Übergriff in einer Einrichtung, jede Erpressung durch den Kostenträger einer Eingliederungsmaßnahme, jeder Profilierungsversuch von sogenannten Fachleuten, jedes Hilfsmittel, das einem verweigert und selbst finanziert werden muss, jeder Rechtsstreit mit Behörden und Kostenträgern…, diese Dinge passieren nämlich, weil autistische Menschen sind, wie sie sind. Das alles wischt man damit einfach weg. Diese Sätze verletzen mitunter so sehr, dass Betroffene ihrerseits Kontakte abbrechen oder sich nur noch unter Gleichgesinnten wirklich sicher fühlen. 

Hätten aber alle Menschen eine autistische Wahrnehmung, Barrieren in der sozialen Interaktion,  und aufgrund ihrer Lebensumstände Angststörungen, Depressionen, und wären gleichzeitig mit diesem Anpassungsdruck konfrontiert, dann wären unsere Probleme nicht so groß. Denn dann wäre unsere Gesellschaft um einiges inklusiver, und die Barrieren in verschiedenen Bereichen wären längst nicht so behindernd. Wenn Autismus Teil einer Mehrheitsgesellschaft wäre, dann gäbe es keine diskriminierenden Strukturen, keine strukturelle Gewalt, keine Ausgrenzung und Inklusion als Menschenrecht stünde nicht permanent zur Debatte. Dann müsste man an verschiedensten Stellen keine Diskussion darum führen, ab wann und ob man ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft ist. Andere Menschen befassen sich allenfalls kurzzeitig mit einem kleinen Aspekt unseres Lebens, aber danach gehen sie zum Alltag über, was auch völlig in Ordnung ist. Das ist ihr Privileg. Für uns nur gibt es keinen anderen Alltag. Und weil es den eben nicht gibt, ist die Bedeutung dessen, was wir tun, eine ganz andere, als das bei neurotypischen Menschen der Fall ist.