Fachpersonal und der teilweise fragwürdige Umgang mit AutistInnen und Angehörigen

Eins vorweg, ich kenne einige sehr engagierte LehrerInnen, ÄrzteInnen, TherapeutInnen und SozialpädagogInnen. Ich bin selbst Sozialpädagogin, und habe Berufserfahrung in den verschiedensten Bereichen. Ich will hier mit diesem Text niemandem Unrecht tun. Bitte dies also nicht als Angriff allgemein gegen Fachpersonal sehen. Aber wir müssen über das reden, was zu viele AutistInnen und deren Angehörige durchmachen, weil sie an inkompetentes Fachpersonal geraten. Die Folgen sind verheerend. Allgemein gilt aber: niemand muss sich einen Schuh anziehen, der ihm nicht passt (rw)!

Gerade in letzter Zeit lese ich wieder vermehrt, mit welchen Dingen Eltern und AutistInnen durch Fachpersonal (PädagogInnen, TherapeutInnen und medizinisches Fachpersonal) und konfrontiert werden. Ich bin in über zehn Facebook Selbsthilfegruppen zum Thema Autismus aktiv. Man kann sich oft gar nicht vorstellen, was man da zu lesen bekommt. Häufig sind Eltern grundsätzlich verunsichert aufgrund diverser Rückmeldungen von Fachleuten, und suchen Rat in den entsprechenden Gruppen. Es sind aber auch immer wieder Fachleute, die sich in den Gruppen zu Wort melden. Und manchmal, das muss man ganz klar so sagen, lassen mich deren Aussagen und ihr Verhalten Betroffenen gegenüber fassungslos zurück. Natürlich gibt es auch sehr engagiertes Fachpersonal. Wir selbst haben sowohl sehr gute, als auch sehr negative Erfahrungen gemacht. Ich kenne das System also von beiden Seiten, aus professioneller Sicht und eben auch als Mutter bzw. Betroffene. Ich erkenne fachlich gute Arbeit, wenn ich sie sehe.

Ich muss mir sogar eingestehen, aus heutiger Sicht würde ich anders arbeiten. Es war mir damals nicht bewusst, aber die Gesellschaft definiert eine Norm und oftmals ist es unsere Aufgabe als PädagogInnen, einen Klienten entsprechend dieser Norm zu betreuen und auch ein Stück weit zu formen. Im Grunde geht es schlicht oft um Anpassung. Wenn das nicht klappt, sind entweder die Eltern schuld, oder Betroffene haben eben einfach nicht richtig „mit gemacht“. Dann kann der Leidensdruck ja nicht so groß gewesen sein, wenn man nicht bereit ist, etwas zu verändern oder an sich zu arbeiten. Eigentlich ist das eine unglaublich herablassende Sicht auf die Dinge, die letztendlich nur der Betroffene selbst beurteilen kann, weil nur er oder sie es durchmachen muss. Jeden Tag. Für uns gibt es keinen Feierabend.

Wenn autistische Kinder sich „auffällig“ verhalten, häufig Meltdowns haben (von Außenstehenden dann gerne als Wut- oder Trotzanfälle gewertet), sich „verweigern“, Ängste oder Zwänge haben, Situationen vermeiden oder provozieren, dann ist das immer ein Zeichen dafür, wie schlecht es dem Kind geht. Ein Kind, dem es gut geht, muss sich nicht so verhalten. Ich habe mal einen Spruch gelesen, den ich sehr passend finde: Bevor ein Kind Schwierigkeiten macht, hat es welche (Alfred Adler). Hat ein autistisches Kind also großen Leidensdruck, sind zum einen Meltdowns häufig unvermeidbar. Andererseits haben Kinder auch keine alternativen Strategien. Woher auch? Sie sind Kinder. Und sie müssen enormen Stress erleben und aushalten. Alternativen zu erlernen, dauert Jahre. Das heißt aber nicht, dass sie später keine Meltdowns mehr haben. Diese zeigen sich vielleicht nur anders.

Kinder müssen heutzutage funktionieren, dies gilt auch für autistische Kinder. Wie oft höre ich von Erwachsenen, dass man auch Schwächen haben darf, dass man nicht perfekt funktionieren muss. Für Kinder gilt das oft nicht. Sie bekommen dann einen regelrechten Strafenkatalog. Das Problem ist auch, dass Eltern durch Fachpersonal durchaus häufig verunsichert werden. Ich weiß noch, dass ich immer gemaßregelt wurde, weil ich meinem extrem erschöpften Kind nach der Schule die Schultasche abgenommen habe. Andere Eltern betüdeln ihre Kinder, bringen sie teilweise bis zum Klassenzimmer, aber das autistische Kind ist jenes, welches Selbstständigkeit erlernen muss.

Hört man diversen Fachleuten zu, dann ist autistisches Verhalten im Grunde alles eine Sache der Erziehung und die Eltern sind es, die den Kindern den Raum für ihr „untragbares“ Verhalten bieten. Man muss nur die richtigen Grenzen setzen, und auf wundersame Weise fühlen autistische Kinder sich dann so sicher, dass sie praktisch kaum mehr Auffälligkeiten zeigen. Dazu muss ich sagen, ich setze durchaus Grenzen, die Sichtweise von außen legt ja immer nah, dass man das nicht tun würde. Sonst würde das Kind ja auch entsprechendes Verhalten nicht zeigen. Ich selbst habe damals ungefragt Erziehungstipps von mehreren ErgotherapeutInnen bekommen, meist auch noch vor einem voll besetzten Wartezimmer (also in Hörweite). Ich müsse mit meinem Kind nur mehr in die Konfrontation gehen, dann passieren auch diese grausigen Wutanfälle nicht mehr. Dass es keine Wutanfälle waren, spielte ja eh keine Rolle. Was dazu geführt hat ohnehin nicht. Dass die Anforderungen an mein Kind vielleicht einfach zu hoch waren, dass die Überforderung sich irgendwann Bahn brechen musste, davon war nicht einmal die Rede. Das Verhalten wurde negativ bewertet und mit Maßnahmen reagiert, die das ganze noch mehr eskalieren ließen. Ich kam damals in meiner Überforderung gar nicht gegen diese Übermacht an, die mir einredete, dass wir als Eltern versagt hätten. Jetzt ist es aber so, dass verunsicherte Eltern einem Kind wirklich keine Sicherheit geben können. Sie sind nicht berechenbar und auch nicht authentisch.

Ein weiteres unschönes Erlebnis war der Kontakt zu einem Beratungs- und Förderungszentrum bereits vor der Einschulung. Man stellte uns direkt eine schlechte Prognose und sah unser Kind auf Dauer in der Psychiatrie. Wieder so ein Punkt, an dem man als Eltern gar nicht mehr weiß, was eigentlich noch alles kommen soll. Zudem ist es nicht sonderlich professionell, bei einem Erstkontakt zu Eltern so eine niederschmetternde Prognose zu stellen. Das Kind hat ja im Grunde von vornherein keine Chance, man stempelt es als hoffnungslos ab. Man fühlt sich dem System komplett ausgeliefert. Das System ist ja selbst überfordert, und das wird einem auch so signalisiert: „Ein Kind wie ihres ist im System nicht vorgesehen.“ Teilweise werden aber auch bewusst alternative Wege boykottiert. Nicht jedeR gibt zu, dass man der Situation nicht gewachsen ist, und dass es vielleicht Zeit ist, sich an anderer Stelle zusätzlich Hilfe zu holen. Gerade im Schulsystem hat man da stellenweise das Gefühl, man redet gegen Wände. Da können runde Tische stattfinden noch und nöcher. Hinterher wird oftmals Besprochenes nicht umgesetzt, Fehler wiederholen sich und Einsicht findet man selten.

Der Leidensweg meines Kindes gipfelte darin, dass man ihn während eines Meltdowns in einer Tagesklinik mit der Festhaltetherapie quälte. Ich war dabei, selbst in einem Meltdown und komplett hilflos. Wir waren dem Pflegepersonal dort schlicht ausgeliefert. Ich wurde des Raumes verwiesen, während PflegerInnen und ÄrztInnen mein Kind auf den Boden drückten. Man redete auf mich ein, dass dies nötig wäre, besonders bei Kindern, die keine Grenzen erfahren. Ich konnte erst Tage später realisieren, was da überhaupt passiert ist. (Es ist in Fachkreisen mittlerweile höchst umstritten, diese Methode anzuwenden. Abgesehen davon, dass dies eine sehr traumatische Erfahrung sein kann, gab es bei der Anwendung dieser Methode in der Vergangenheit auch Todesfälle). Es ist übrigens auf psychiatrischen Stationen oder in Tageskliniken nach wie vor üblich, Kinder die zb in einem Meltdown aggressiv reagieren, in einen Time-Out Raum zu sperren. Der Rückzug in einen reizarmen Raum ohne Verletzungsmöglichkeiten ist sogar empfehlenswert, aber nicht unter Zwang. Das führt nur zu einem weiteren traumatischen Erlebnis. Ein Meltdown ist ein bedrohlicher Zustand, da wird solch ein Übergriff noch um ein Vielfaches heftiger wahrgenommen.

Unser Vorteil in dieser Situation war, dass ich selbst vom Fach bin, und wir aber auch in unserem privaten Umfeld einige PädagogInnen haben, die uns immer wieder alternativ beraten haben. Und parallel gelang es uns, ein Hilfenetzwerk zu installieren, von dem wir bis heute profitieren. Es gibt sicher Autismuszentren, deren Arbeit durchaus kritisch zu bewerten ist. Unseres hat uns das ein oder andere mal unglaublich geholfen.

Jetzt könnte man sagen, dass das eine Ausnahme war, dass wir einfach Pech hatten und dergleichen. Ich lese aber täglich von den unterschiedlichsten Leuten davon. Es gibt viele Eltern, die hoch traumatisierte Kinder zu Hause sitzen haben.

In letzter Zeit passiert es auch häufig, dass ich in den Gruppen mit Fachleuten zu tun habe, bei denen ich mich frage, ob sie mich eigentlich ernst nehmen, oder schlicht für bescheuert halten. Das Spannungsfeld AutistInnen – Fachpersonal bzw. Angehörige – Fachpersonal ist kein leichtes. Es kommt immer wieder zu Konflikten und als Betroffene fühlt man sich auch mal schnell in die Ecke gedrängt. Ich bin beispielsweise häufig bei Gesprächen, bei denen ich alleine mehreren Fachleuten gegenüber sitze, die über die Bewilligung von Hilfen oder das weitere Vorgehen beraten. Das ist eine großes Ungleichgewicht und für viele ist das regelrecht Angst einflößend. Mein Vorteil ist, dass ich solche Gespräche früher selbst geführt habe, und fachlich mir in dem Bereich niemand was neues erzählen kann, im Gegenteil. Häufig profitieren die Anwesenden von meinen Innenansichten und meinem Wissen über Autismus. In den Gruppen allerdings gibt es eine Vielzahl von Fachleuten, die uns mit ihrem Verhalten signalisieren, dass sie uns nicht ernst nehmen. Eine jahrelange Berufserfahrung in entsprechenden Bereichen wird häufig als Beweis angeführt, dass man es besser wisse, und wir sind ja eh nur Laien auf dem Gebiet. Nun, als Autistin und Mutter eines Autisten weiß ich auch ein bißchen was. Allerdings bekomme ich in letzter Zeit sogar häufiger den Eindruck, dass ich ab dem Moment, in dem ich als Autistin auftrete, nicht mehr oder noch weniger ernst genommen werde. Dann wird alles, was aus autistischer Sicht kommt, belächelt und klein geredet, wenn man überhaupt eine Antwort erhält. Autistische Bedürfnisse solle man bloß nicht allzu sehr erfüllen oder ernst nehmen, das gilt dann als „in Watte packen“. Man müsse an den Symptomen arbeiten, was nichts anderes heißt, als dass autistische Verhaltensweisen und Strategien möglichst abtrainiert werden sollen. EinE AutistIn, so unauffällig wie möglich, ist das Ziel. Warum einE AutistIn ein entsprechendes Verhalten zeigt (zb. aus einer Überforderungssituation heraus), ist in dem Moment erst mal zweitrangig. Schlimm finde ich, dass ich in solchen Momenten argumentieren kann, wie ich will, nichts davon wird angenommen. Besonders schräg wird es dann, wenn Fachleute so argumentieren, dass man ein Kind durch Anpassung vor Diskrimierung und Ausgrenzung schützen möchte. Dass sie selbst Menschen im Spektrum diskriminieren, indem sie sie nicht ernst nehmen, über ihre Bedürfnisse hinweggehen und sie teilweise ins Lächerliche ziehen, bemerken sie gar nicht.

Mittlerweile ist es sogar so, dass viele Betroffene oder Angehörige keine Fachleute in den Gruppen mehr haben möchten. Sich fühlen sich unsicher, beobachtet und trauen sich dann nicht mehr, offen zu schreiben. Das kann doch keinesfalls das Ziel sein.

Es ist sicher nicht leicht, die eigene Arbeit und Einstellung zu hinterfragen, aber das sind genau die Menschen, die uns unseren Weg so schwer gemacht haben. Einiges davon hätte nicht passieren müssen. Wir als Familie hätten uns einiges an Schuldgefühlen, Angst und Leid ersparen können. Mein Kind hätte vom System besser aufgefangen werden müssen, dann hätte es vielleicht auch einige der traumatischen Erlebnisse nicht durchmachen müssen.

AutistInnen müssen ernst genommen und Eltern gestärkt werden. Das Hilfenetz muss früher greifen und vor allem die Betroffenen entlasten. Betroffene können sehr wohl entscheiden, wie sie sich ein gutes Leben vorstellen, und was sie dafür benötigen. Wer entscheidet denn, wie ein erfülltes Leben auszusehen hat? Wenn das bedeutet, dass einE AutistIn vor allem den Rückzug sucht, weil er diesen einfach braucht, dann kann es nicht sein, dass Kostenträger auf Sozialkompetenzgruppen bestehen. Auch EntscheidungsträgerInnen zb. beim Versorgungsamt pochen häufig darauf, dass Therapien stattfinden, insbesondere solche, die der Anpassung dienen. Macht man diese nicht, werden Anträge auch gerne mal abgelehnt. (Therapien können natürlich hilfreich sein, sie sind aber nicht zwangsläufig nötig.)

Das System an sich muss komplett hinterfragt werden. Anpassung um jeden Preis ist schädlich und widerspricht eigentlich auch komplett dem Inklusionsgedanken. Inklusion bedeutet nicht, dass wir AutistInnen uns ändern müssen, damit wir es wert sind, teilhaben zu dürfen. Personenzentrierte Arbeit bedeutet immer zu schauen, was eine Person vom System braucht, um sich einbringen zu können. Das erfordert Kreativität und häufig auch einen Perspektivwechsel. Es sind nicht die eigenen Vorstellungen, die maßgebend sind, sondern die des Betroffenen. Ich weiß, das widerspricht vielem, was so als allgemeingültig anerkannt ist. Aber ich kann nichts schlechtes daran finden, den Horizont zu erweitern und ein wenig „Outside the Box“ zu denken. Das eröffnet einem in der Arbeit noch viel mehr Möglichkeiten und Perspektiven. Es könnten beide Seiten davon profitieren!