Seit ich meine Autismus-Diagnose vor etwa einem dreiviertel Jahr bekam, frage ich mich oft, wie ich so lange als „unerkannte“ Autistin durchs Leben gehen konnte. Wie kann es sein, dass man zwar immer wieder diese Gedanken hat, dass man „anders“ ist, aber dennoch eigentlich total verlernt, wer und was man ist, und im Grunde nicht auffällt.
Ja, ich bin nicht nur Autistin, aber es macht einen sehr großen Teil meines Selbst und meiner Geschichte aus. Und trotzdem fühlt es sich so an, als hätte ich bis zu meiner Diagnose keinen Bezug zu mir gehabt. Seit meiner Diagnose habe ich einen A-ha-Moment nach dem anderen. So viele Dinge werden mir bewusst. Dinge, die ich entweder nicht sehen konnte, oder die ich unbewusst unterdrückt habe.
Es kommt mir so vor, als hätte ich bis dahin mein ganzes Lebens maskiert. Sobald ich mich in die Außenwelt begebe, setze ich mehr oder weniger automatisch eine Maske auf. Diese Maske bedeutet für mein Umfeld, dass mein Autismus nicht wirklich offensichtlich wird. Es gibt im Grunde nur einen Menschen in meinem Leben, der meine autistischen Verhaltensweisen und Auffälligkeiten kennt. Ich würde es nie zulassen, dass ich zb in der Öffentlichkeit einen Zusammenbruch habe. Ich schiebe diesen Ausbruch, bis ich in Sicherheit zu Hause oder im Auto bin. Dieses Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, die Panik, dieses „Nicht mehr aushalten können“ von sämtlichen Reizen und Anforderungen, ist absolut schrecklich. In diesen Momenten versuche ich, bewusst zu maskieren. Etwas, was mir früher wesentlich leichter gefallen ist. Früher habe ich maskiert und kompensiert, bis ich irgendwann zusammen geklappt bin – autistisches Burnout.
Im Gegensatz zu früher, erlebe ich diese Zustände wie Overload und Meltdown viel bewusster. Früher hab ich das weggedrückt und funktioniert. Heute merke ich, dass ich vor lauter Überforderung die Orientierung verliere. Dann kann es zb passieren, dass ich im Drogeriemarkt, den ich wirklich gut kenne, völlig verloren bin, mich nicht mehr auskenne und so schnell wie möglich flüchten muss. Heute merke ich auch, wie mir jedes kleinste Geräusch in den Ohren weh tut, wie jeder Lichtstahl mich blendet. Ich nehme heute alle Farben wahr, jedes Empfinden auf der Haut. Und ich merke, wie schrecklich einige Situationen sind, in denen ich maskieren muss. Das sind häufig Situationen, in denen ich auf gar keinen Fall die Kontrolle verlieren darf, beispielsweise ein Hilfeplangespräch. Ich würde mich unendlich angreifbar machen. Heute merke ich, wieviel Kraft mich solche Situationen kosten. Zwei Stunden und ich benötige danach viele Tage, um wieder einigermaßen funktionieren zu können. In der Regel habe ich danach eine Migräne-Attacke und muss erst mal schlafen. Schlafen, vor allem tagsüber, hilft mir, sämtliche Reize auszublenden.
Das alles hatte ich früher nicht. Ich habe immer maskiert, immer kompensiert, und völlig verlernt, auf mich zu hören. Mittlerweile sehe ich zu meinen chronischen Schmerzerkrankungen einen deutlichen Bezug. Sie sind zwar eigenständige Erkrankungen, werden aber genau davon massiv getriggert. Mein Körper wehrte sich schon sehr viel früher gegen die permanente, unbewusste Überforderung, gegen Reizüberflutung und gegen ständige Anpassung. Schmerzen, Depressionen und Ängste waren die Folge.
Genaus darin sehe ich das Problem, wenn man von hochfunktionalem Autismus spricht. Im Grunde bedeutet es, dass man einer Person den Autismus nicht oder viel weniger anmerkt, als man es vermuten würde. Es wird darin eine hohe Anpassungsbereitschaft gesehen. Dass diese Anpassungsbereitschaft nicht unbedingt freiwillig oder bewusst geschieht, unglaublich anstrengend ist und einen hohen Preis einfordert, wird oft ausgeblendet. Das hat zur Folge, dass man sogenannten hochfunktionalen Autisten nur allzu oft ihren Leidensdruck abspricht. Oft wird ihnen nicht geglaubt, dass sie im Alltag manchmal viel Hilfe benötigen. Wenn sie sich viel zurückziehen, gelten sie oft als faul. Dass dies aber absolute Überlebensstrategien sind, wird ihnen oft nicht abgenommen. Ich selbst habe heute noch Probleme damit, mich selbst nicht als faul einzuschätzen. Ich weiß rational gesehen sehr genau, warum ich so viel Rückzug und Ruhe benötige, und dabei vieles an Aufgaben im Alltag liegen bleibt. Da so etwas aber häufig nicht auf Akzeptanz stößt, und ich so aufgewachsen bin, dass man zu funktionieren hat, kann ich es mir nur schwer zugestehen, mir diese Ruhe zu gönnen, ohne schlechtes Gewissen.
Hinzu kommt, dass man auf der einen Ebene sehr erfolgreich sein kann, auf einer anderen aber absolut überfordert ist. Ich habe zb mein Studium erfolgreich abgeschlossen, eine Zusatzausbildung gemacht, ich habe auf dem ersten Arbeitsmarkt gearbeitet. Und dennoch gibt es Dinge im Alltag, die mich je nach aktueller Belastung, total überfordern. Wenn ich über Wochen hin funktionieren musste, dann kann es sein, dass ich kein Telefonat mehr führen kann. Wenn ich permanent über meine Belastungsgrenze hinaus gehe, dann merke ich, wie mir meine Alltagskompetenzen abhanden kommen. Ich bin ständig überreizt und habe dauerhaft Schmerzen. Außerdem habe ich ständig ein Panikgefühl. Ich habe immerzu das Bedürfnis, zu flüchten. Meine Haut juckt oder es fühlt sich an, als würden ständig kleine Nadeln auf mich herab rieseln. Weil ich aber so hochfunktional bin, bekommt kaum jemand davon etwas mit. Ich schäme mich dann dafür, sehr sogar. Meinen Mann in solchen Situationen um Hilfe und Entlastung zu bitten, schaffe ich oft nicht mehr adäquat.
Wenn ich heute die Maske aufsetze, ich weiß meist schon vorher, dass ich es tun muss, dann wehrt sich in mir alles dagegen. Ich wünschte einerseits, ich könnte weniger maskieren. Andererseits sehne ich mich danach zurück, als ich es automatisch tat, ohne darüber nachzudenken. Heute weiß ich, es wird mich sehr viel Kraft kosten, es ist mit sehr vielen Ängsten verbunden und auch mit innerer Abwehr.
Diese Situation habe ich nicht ab und an mal, sondern immer, jeden Tag. Und ich habe das nicht nur in Extremsituationen, die jeden überfordern würden, sondern bei sehr vielen vermeintlichen Kleinigkeiten. Ein Anruf, ein Einkauf, beim Autofahren, jeder Termin beim Arzt, jedes Telefonat, jedes frühe Aufstehen, der komplette Alltag einfach.
Aber ich bin hochfunktional, also weiß kaum einer davon. Darin liegt auch der Grund, warum ein Teil meines Umfelds nichts von meiner Diagnose weiß. Es würde mir schlicht nicht geglaubt werden. Dieser Situation mag ich mich nicht mehr aussetzen. Ich möchte mich nicht erklären müssen. Die Menschen denken, sie tun mir einen Gefallen, wenn sie sagen, dass sie sich das nicht vorstellen können, da ich nicht autistisch wirke. „Echte“ Autisten sind anders, sie wiegen mit dem Oberkörper hin und her, sie schreien, haben keine Emotionen und Empathie (so denken sehr viele über uns). Dann fängt man an zu erklären und es heißt „ich hab auch Probleme mit Menschenmassen, jeder ist doch ein bißchen autistisch“. Hm, tja ist das so? Ist jeder ein bißchen autistisch? Autisten bekommen bei dieser Aussage das große Kotzen. Es bagatellisiert alles, was wir jeden Tag erleben und auch leisten. Im übrigen ist auch niemand einfach ein bißchen schwanger, oder?
Das Label hochfunktional schadet mir persönlich mehr, als dass es mir hilft. Es schafft null Verständnis, insbesondere nicht für spätdiagnostizierte Autisten.
Anmerkung: Der Begriff hochfunktional bezeichnet eigentlich, im diagnostischen Sinne, diejenigen frühkindlichen Autisten, die keine kognitiven Einschränkungen haben. Es hat sich allerdings über die Jahre im Alltag durchgesetzt, dass man auch das sogenannte Asperger Syndrom als „hochfunktional“ beschreibt. Damit soll deutlich werden, dass autistische Merkmale häufig kaum sichtbar bzw. offensichtlich sind bzw. maskiert werden können.