Wenn die Angst immer da ist – Autismus und Angststörung als Komorbidität im Alltag

Wir alle kennen das Gefühl der Angst. Angst an sich ist erst mal auch nichts schlechtes. Sie bildet sozusagen einen Schutz- und Überlebensmechanismus, vor allem in Situationen, die eine Gefahr darstellen. Durch sie erkennen wir Gefahren überhaupt erst als solche und können gezielt reagieren und handeln. Menschen, die sich einer Gefahr ausgesetzt sehen, haben zwei Möglichkeiten: Angriff/Verteidigung oder Flucht. Erleben wir Angst, wird sozusagen unser kompletter Organismus in Alarmbereitschaft versetzt. Körperliche Symptome wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindelgefühle, Übelkeit, Atemnot begleiten den Zustand der Angst häufig. Diese Symptome sind bei Angsstörungen allgegenwärtig. Bei Panikattacken sind die Symptome ähnlich und/oder noch einmal stärker. Häufig kommen noch Todesangst, massives Engegefühl im Hals oder der Brust, Herz-Rhythmus-Störungen, Taubheitsgefühle, Zittern oder Beben, das Gefühl sich aufzulösen und Kälte- oder Hitzeschauer hinzu.

Bei Angststörungen treten Ängste ohne spezifischen Grund bzw. ohne wirkliche Bedrohungssituation auf. Man unterscheidet zwischen unspezifischen Ängsten und Phobien. Letztere sind an bestimmte Situationen, Räumlichkeiten oder Gegenstände gebunden. Da vor allem bei generalisierten Angststörungen die Angst allgegenwärtig ist, sind Betroffene dauerhaft einem hohen Stresslevel ausgesetzt. Das führt im Grunde dazu, dass Geist und Körper dauerhaft überfordert, überreizt und überaktiv sind. Bei Ängsten spannt beispielsweise die gesamte Muskulatur an, es kommt zu Verspannungen und chronischen Schmerzen. Das Gehirn spult permanente Bedrohungsszenarien ab, und kann nicht abschalten. AutistInnen entwickeln oft im Laufe ihres Lebens komorbide Störungen oder Erkrankungen. Angststörungen sind eine davon. Insbesondere das hohe Stresslevel, permanentes Maskieren und Kompensieren, andauernde Überforderung und das Gefühl diesen Situationen ausgeliefert zu sein, fördern die Entstehung von Angsterkrankungen. Aber auch traumatische Erlebnisse und PTBS können die Entwicklung einer Angststörung begünstigen. Ich persönlich empfinde neben der chronischen Migräne die Angststörung als die schlimmste und herausforderndste Komorbidität, die ich im Laufe der Jahre entwickelt habe.

Meine Angststörung begleitet mich schon, so lange ich denken kann. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in meinem Leben mal keine Angst gab. Das wurde mir bewusst, als ich vor etwas mehr als sieben Jahren mein zweites, sehr heftiges Burnout hatte. Ich war damals schon bei einem Neurologen in Behandlung und berichtete von meinen Ängsten, und dass ich es gar nicht anders kenne. Die meisten meiner Ängste sind an soziale Situationen und den Kontakt mit Menschen gebunden (Sozialphobie). Im Laufe der Jahre sind noch Phobien vor bestimmten Situationen hinzugekommen. Es kann aber auch sein, dass mich eine Angstattacke plötzlich und ohne erkennbaren Grund überfällt. Solche Attacken sind nicht an ein bestimmtes Szenario gebunden (zb ein Termin). Das passiert innerhalb weniger Minuten und es ist für mich nicht feststellbar, warum. Die Angst ist diffus und nicht wirklich greifbar. Begleitet wird sie bei mir von körperlichen Symptomen wie Verspannungen, Schüttelfrost, Herzrasen. Eine Angstattacke dauert bei mir, im Gegensatz zu einer Panikattacke, mehrere Stunden. Eine Panikattacke tritt ähnlich unvermittelt auf. Der Auslöser muss nicht immer sofort erkennbar sein, aber oft finde ich ihn im Nachhinein. Zudem gibt es bekannte Trigger, die bei mir eine Panikattacke auslösen. Eine Panikattacke äußert sich bei mir über Herzrhythmusstörungen, Taubheitsgefühle, die vom Kopf bis zu den Füßen hinab wandern, Atemnot, ein Gefühl des Kontrollverlusts, Kaltschweiß, „Nadelstiche“ auf der Haut und das Gefühl, mich aufzulösen. Da ich die Symptome kenne, weiß ich, dass so eine Attacke in der Regel nur wenige Minuten dauert.

Meine frühesten Kindheitserinnerungen dahingehend sind, dass ich abends immer Angst hatte ins Bett zu gehen. Der nächste Schultag stand wie eine unüberwindbare Hürde vor mir. Ganz besonders schlimm war es am Ende der Ferien oder sonntags. Die sozialen Regeln im Umgang mit anderen Kindern verstand ich nicht. Ich versuchte es entweder mit Imitation, indem ich Verhalten kopierte, oder ich verhielt mich so unauffällig wie möglich. Die Angst vor Zurückweisung, Mobbing und Ausgrenzung war stets präsent. Ich hatte das Gefühl, immer wachsam bleiben zu müssen. Es gab keinen unbeschwerten Kontakt zu Kindern, nichts was in irgendeiner Form losgelöst war. Mobbing und Hänseleien waren an der Tagesordnung. Ich wurde zwar zu Kindergeburtstagen eingeladen, aber es war meist alles andere als lustig. Insbesondere bei so bescheuerten Spielen wie „Wahrheit oder Pflicht“ und „Flaschendrehen“ musste ich als „fiese“ Aufgabe für andere herhalten. Bei einem Kindergeburtstag hielt ich es tatsächlich nicht mehr aus, packte meine Sachen und ging. Es gab Unterrichtsfächer, vor denen ich so große Angst hatte, dass ich regelmäßig vor diesen Stunden mit Magenschmerzen nach Hause musste. Meist war dies vor den Sportstunden. Sport war eine Tortur. Ich war nie gelenkig, immer etwas zu pummelig und hasste jede Form von Mannschaftssportarten. Ich wurde immer als Letzte in eine Mannschaft gewählt, oder man wollte mich gar nicht erst dabei haben. Zudem mussten wir Übungen vor der ganzen Klasse absolvieren. Alle anderen Schüler saßen dabei und konnten sehen, wie ich mich regelmäßig blamierte. Noch heute habe ich Angst, ich könnte beim Sport beobachtet werden.

Ab der 9. Klasse etwa hatte ich jeden Morgen Bauchkrämpfe. Ich hasste es schon, morgens zum Bus zu laufen, und die Gruppen anderer SchülerInnen zu sehen. Ich sah jeden Blick, jedes Gelächter, jedes Augenrollen. Systematisches Mobbing gehörte zu meinem Alltag. Ich schämte mich dafür, gab mir die Schuld und versuchte ständig, mich anzupassen. Einerseits wollte ich nicht auffallen, gleichzeitig hatte ich innerlich ein unbändiges Bedürfnis danach, unangepasst sein zu dürfen. Mit 16 bekam ich dann chronische Migräne. Migräne ist zwar eine eigenständige Erkrankung, aber sie wird massiv von Reizen und auch Ängsten/psychischem Stress getriggert. Ein nicht unerheblicher Teil von Angstpatienten leidet unter chronischen Schmerzen.

Mobbing zog sich bis zum Abitur in wechselnder Form durch. Noch heute fällt es mir extrem schwer, es mit Gruppen zu tun zu haben. Die Angst vor Menschen, vor Ausgrenzung, Erniedrigung und dem Gefühl, Erwartungen nicht gerecht werden zu können, ist immer da. Auch die Angst, dass sich ein geliebter Menschen gegen mich wenden könnte, ist präsent. Das begleitet mich mittlerweile in vielen kleinen Alltagssituationen. Im Grunde sind diese Ängste allgegenwärtig, denn schließlich besteht ein Großteil des Lebens aus sozialen Situationen. Selbst für Menschen wie mich, die insgesamt eher zurück gezogen leben.

Ich weiß noch, dass ich als Kind und Jugendliche immer dachte, dass irgendwann, wenn ich erwachsen bin, der Zeitpunkt kommen müsse, an dem mein Leben so etwas wie eine Selbstverständlichkeit bekommen würde. Keine Angst mehr vor der Schule oder dem Arbeitstag. Es gab aber bis zum Schluss nicht einen Tag, an dem ich nicht mit Herzrasen, Schweißausbrüchen oder weinend im Auto auf dem Parkplatz vor meiner Arbeitsstelle saß. Ich weiß nicht, ob man sich vorstellen kann, wieviel Kraft es kostet, sich jeden Tag dieser Angst zu stellen. Über Jahre hinweg. Es heißt ja immer, man müsse sich nur oft genug konfrontieren, die Angst dürfe nicht das Leben bestimmen und all sowas. Das mag vielleicht bei einer „kurzfristigen“ Angststörung der Fall sein, oder wenn die Umstände andere sind, bei mir hat das keinen positiven Effekt gehabt.

Mir nehmen meine Ängste und die diversen anderen Einschränkungen, die ich durch meinen Autismus und die chronischen Schmerzen habe, so viel Kraft, dass ich mir gezielt einteilen muss, welchen Ängsten ich mich derzeit stellen kann, und welchen nicht. Im Grunde kämpfe ich entweder gegen meinen Körper oder gegen meine Ängste. Es ist unwahrscheinlich anstrengend, wenn man permanent dieser Angst und damit dem Gefühl der Bedrohung ausgesetzt ist. Stellt euch vor, ihr würdet euch immer bedroht fühlen, ihr hättet immer Angst vor dem, was kommt und euer Kopf würde diese Ängste immer und immer wieder abspielen. Stellt euch die schlimmsten Dinge vor, die Euch passieren können. So fühle ich mich den Großteil meines Lebens.

Um einen Eindruck zu verschaffen, wie weit Ängste den Alltag bestimmen können, zähle ich hier meine spezifischen Ängste bzw. die Situationen auf, die mir Angst oder Panik bereiten:

  • Soziale Situationen (eigentlich so ziemlich alle): Telefonate, Konflikte/Meinungsverschiedenheiten, Einkäufe, Partys, Gesprächstermine, Kennenlernen neuer Gruppen (zb in Kursen), Kontaktaufnahme im real Life, Angst vor Zurückweisung und Mobbing, Angst davor, Vertrauenspersonen zu enttäuschen oder Erwartungen nicht erfüllen zu können
  • Arztbesuche, medizinische Behandlungen, Zahnarzt
  • Zukunftsängste
  • Versagensängste und Angst, der Verantwortung nicht gerecht werden zu können
  • Verlustängste
  • Angst zu spät zu kommen
  • Spinnenphobie
  • Angst vor langen Autofahrten
  • Angst vor unbekannten Orten, mich nicht orientieren zu können
  • Angst vor der Nacht bzw Schlaflosigkeit
  • Angst vor Schmerzattacken
  • Angst davor, vor anderen Menschen zu essen

Viele dieser Ängste „übergehe“ ich, oder muss mich gezwungenermaßen damit auseinander setzen. Das ist mit einem großen Anstrengungsaufwand verbunden. Tatsächlich kann es dann sein, dass ich anderen Ängsten nicht mehr anders, als mit Vermeidung begegnen kann. Die Energie, mich dann einer weiteren Situation zu stellen, kann ich nicht mehr aufbringen.

Ich habe trotz zahlreicher Therapien keinen Weg aus der Angst heraus gefunden. Mittlerweile finde ich die meisten Therapieansätze ohnehin nur noch zynisch. Sie suggerieren mir, dass der Fehler bei mir liegt und ich mich nur ändern wollen müsste. Es wurde mir unterstellt, dass ich von meinen Diagnosen profitiere. So lange ich deswegen nicht arbeiten gehe, würde ich diese Spirale aufrecht erhalten. Meine Schmerzen, Depressionen und Ängste würden also diesem Zweck dienen (Krankheitsgewinn) und ich bin diejenige, die dieses „Konzept“ aufrecht erhält.

Es gab nicht eine Therapie, die mich bestärkt hat. Nie wurde mir gesagt, dass es legitim ist, wenn ich nicht kann, wie ich möchte. Das Ziel war immer, mich zum funktionieren zu kriegen. Auch dadurch habe ich angefangen, den Fokus darauf zu legen, dass ich „nicht funktioniere“. Die Weichen dafür waren sicher schon weitaus früher gestellt worden, aber sowas hilft nicht gerade, diese Mechanismen und Denkmuster abzubauen. Deswegen mache ich keine Therapie mehr.

Es gibt sicher Menschen, die von Verhaltenstherapie profitieren. Ich frage mich allerdings häufig, ob das wirklich immer der richtige Ansatz, gerade für Autist_innen ist (zumindest in der Art, wie es häufig angewandt wird). Für einige von uns ist das Stresslevel dauerhaft so hoch, der gesellschaftliche Druck und die Anforderungen im Alltag sind oft so massiv, dass es im Grunde nur sehr selten zu einem entspannten Alltag kommt. Wenn man dann allerdings lernt, sich Dinge zuzugestehen, das als selbstverständlich und legitim erachten kann, wird bereits im Vorfeld viel Druck abgebaut oder kann gar nicht erst entstehen. Viele Betroffene machen sich zudem zusätzlich Sorgen, da sie ihr Umfeld nicht enttäuschen oder verletzen wollen. Ich will damit nicht sagen, dass ich völlig gegen therapeutische Intervention bin, im Gegenteil. Therapie, wertschätzend und an die Betroffenen und diese Bedingungen angepasst, kann sehr hilfreich sein. Denn natürlich ist es nicht erstrebenswert, sich komplett zurück zu ziehen, vor lauter Angst das Zimmer nicht mehr verlassen zu können und permanent in Panik oder Angst zu leben. Nichts daran ist schön. Das therapeutisch anzugehen benötigt aber sehr viel Sensibilität, Zeit, Verständnis und ggf. Begleitung im Alltag. Vor allem Zeit haben die meisten Therapeuten in der Form nicht. Ich kenne aber einige Familien, in denen die Eltern mit solchen Ansätzen arbeiten, ihre Kinder behutsam und kleinschrittig begleiten und so auch Ängste abbauen können.

Manchmal gehen die Ängste auch nie weg, so wie bei mir. Dann ist es wichtig, dass man den Umgang damit erlernt. Das ist nicht einfach, da man im Grunde immer ein wenig gegen sich kämpfen muss, indem man zb. einem Fluchtreflex oder Vermeidung nicht nachgibt. Auch muss man lernen, dass es gute und schlechte Tage gibt. Auch die schlechten Tage dürfen sein und dann schafft man möglicherweise Dinge nicht, die an anderen Tagen selbstverständlich sind. An einem schlechten Tag diese Dinge nicht tun zu können, ist kein Verlieren oder Versagen. Man muss lernen und verstehen, dass dieser Kampf immense Kraft kostet, zusätzlich zum hohen Stresslevel, dem sehr viele Autist_innen ausgesetzt sind. In diesem Fall ist es völlig legitim, sich seine Kräfte einzuteilen oder ggf. Kapazitäten für andere Dinge aufzusparen. Aber all das habe ich in den vergangenen Jahren bei Therapien nicht gelernt.

Die autistische Community hingegen hat in dieser Hinsicht und für mein Seelenheil weit mehr getan, als jede Therapie. Das Selbstverständnis für Stärken und Schwächen ist ein ganz anderes. Vor allem ist es legitim, die eigenen Grenzen zu kennen und nicht permanent darüber hinaus gehen zu wollen. Stimming und auch schmerzhafte Skills sind anerkannt. Ruhepausen und Auszeiten werden nicht als Faulheit ausgelegt. Sie werden als Notwendigkeiten gesehen, einigermaßen durch den Alltag zu kommen. Sie sind überlebenswichtig. Mittlerweile weiß ich, dass ich meine Angststörung sogar ganz gut im Griff habe. Aber dieses Wissen habe ich mir erarbeitet, außerhalb von Therapien.

Update aus dem Juli 2021: Inzwischen habe ich wieder eine Therapie begonnen, da zu meinen spezifischen Ängsten mittlerweile eine ausgeprägte generalisierten Angststörung hinzu kam. Ich bin auf der Suche nach Strategien, damit umgehen zu können und schaffe diese Herausforderung nicht mehr alleine. Bis jetzt fühle ich mich dort sehr wohl und mit meinen Einschränkungen wahrgenommen.