Ich suche schon eine Weile nach einem Symbolbild für den Umstand, dass man als autistische Person mit zunehmendem Alter weniger leistungsfähig zu sein scheint, weniger kompensieren und maskieren kann, und immer mehr mit den Folgen zu kämpfen hat. Zudem ist es für viele Menschen nicht nachvollziehbar, warum eine Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt wird, weil man schließlich ja nicht erst im Laufe seines Lebens autistisch wird.
Die Löffeltheorie eignet sich zwar wunderbar, um zu erklären, warum man für vermeintliche Kleinigkeiten mehr Energie verbrauchen muss, als andere Menschen ohne derartige Diagnosen, aber sie beschreibt nicht, warum es vielen so geht, wie mir. Nämlich, dass ich immer schneller an meine Grenzen komme, gefühlt quasi in meiner Leistungsfähigkeit abbaue und mittlerweile mehr autistische Verhaltensweisen zeige. Klar, mit diversen Diagnosen lebt es sich auch nicht so bequem, das ist anstrengend und fordert einen gewissen Tribut. Dennoch würde ich das ganze gerne verdeutlichen.
Viele spätdiagnostizierte AutistInnen beschreiben, dass es ihnen mit zunehmendem Alter immer schwerer fiel, zu maskieren, und dass dann ihre autistischen „Merkmale“ deutlicher zu Tage kamen. Je mehr Anforderungen des Alltags, je mehr Stress einE AutistIn aushalten muss, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest für einen selbst, oft aber auch für DiagnostikerInnen, Autismus sichtbar wird. Es ist ja nicht so, dass man plötzlich autistisch wird, aber die Kompensations- und Maskierungsstrategien sind jetzt nicht mehr so wirksam. Aber warum ist das so? Ich selbst wurde einmal im, Bezug auf meinen Unterstützungsbedarf im Alltag, gefragt, wie ich das denn früher so gemacht hätte. So nach dem Motto: kann ja nicht sein, dass das früher nicht auffiel und dieser Bedarf früher nicht bestand. Denn immerhin habe ich Abitur gemacht, ein Studium absolviert, zudem eine Zusatzausbildung, und ich habe eine Familie gegründet. Das wirkt alles nicht nach einer Person, die im Alltag so viele Probleme hat. Und tatsächlich ist das schwer nachvollziehbar. Wie ich es früher gemacht habe: ich habe durch permanente Überlastung mehrere chronische Erkrankungen entwickelt.
Aber warum gehen viele Dinge heute nicht mehr, und waren früher durchaus möglich? „Sowas“ verlernt man doch nicht.
Deswegen habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie man das Außenstehenden verdeutlichen kann:
Stellt euch vor, ihr habt eine Art Gefäß, in welchem sich eine Flüssigkeit befindet, die sozusagen euer Antrieb/Treibstoff ist (vergleichbar mit einem gefüllten Benzintank). Im Laufe der Jahre bekommt dieses Gefäß Sprünge, die noch keine großen Auswirkungen haben müssen, wenn sie nicht durchlässig sind. Schlimmer sind die Löcher, die ebenfalls nach einigen Jahren hinzukommen. Mit steigendem Alter steigt die Anzahl der Löcher. Das Gefäß kann also, aufgrund der Löcher, die Flüssigkeit nicht mehr so lange vorhalten. Mit jedem Loch, das hinzukommt, läuft die Flüssigkeit also schneller aus dem Gefäß. Das ist Energie, die vermeintlich ungenutzt ausläuft und unwiederbringlich verloren geht. Ist das Gefäß leer, steht keine Energie mehr zur Verfügung, der Treibstoff fehlt. Gleichzeitig, während die Flüssigkeit sinkt, wirken von außen sensorischer Input und zunehmende Anforderungen des Alltags auf die Flüssigkeit ein. Sie verbrauchen zusätzliche Flüssigkeit. Das wäre, bei wenigen bis keinen Löchern unproblematisch. Aber das entspricht nicht der Lebenswirklichkeit der meisten autistischen Menschen. Viele bekommen schon im frühen Kindesalter die ersten Löcher, zb. durch den Schuleintritt.
Je mehr Löcher das Gefäß also bekommt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man Kompetenzen ganz oder teilweise verliert, der Unterstützungsbedarf steigt und autistische Verhaltensweisen mitunter „offensichtlicher“ werden. Das ist dann der Punkt, an dem viele AutistInnen ihre späte Diagnose erhalten. Es ist also durchaus logisch, dass Kompensations- und Maskierungsstrategien im jungen Alter oftmals besser funktionieren, und mit steigender Anzahl der Löcher weniger oder nicht mehr zur Verfügung stehen.
Diese Löcher können nicht mehr gefüllt oder kompensiert werden. Wichtig ist, diese Löcher entstehen nicht nur durch negative Ereignisse, denn auch positive Dinge nehmen dauerhaft Energie. Das ist einfach das, was unser Leben ausmacht, und nicht vorwurfsvoll gemeint. Es gehört zu unserem Alltag, dass alle (!) Umstände, positiv wie negativ, ihren Einfluss haben.
Was bei autistischen Menschen diese Löcher verursachen kann:
- Anforderungen in der Ursprungsfamilie
- Veränderungen innerhalb der Ursprungsfamilie
- Anforderungen in der Schule oder schon im Kindergarten
- Mobbing und Ausgrenzung
- Ausbildung/Studium und Berufsalltag
- Elternschaft (nicht negativ zu werten, aber ab diesem Zeitpunkt fehlen häufig die Möglichkeiten für Rückzug und Stressabbau)
- Traumata
- Diskriminierung
- Depressionen
- Angststörungen
- Autistisches Burnout
- Schlafstörungen
- Chronische Schmerzen
- Gedankenkarussel
- Verantwortlichkeiten
- Soziale Interaktion und zwischenmenschliche Konflikte
- Stress mit Behörden/Einrichtungen/Schule/Arbeitsstelle/ÄrztInnen und TherapeutInnen
- Masking
- Andere Diagnosen, die nicht im komorbiden Zusammenhang stehen.
- Schädliche Therapien wie ABA
- Erzwungene Unterdrückung autistischer Verhaltensweisen und Kompensationsstrategien durch „Erziehung“
- Barrieren im Alltag
- Verlust von Bezugspersonen oder andere einschneidende, alltagsverändernde Ereignisse
- Gewalterlebnisse während eines Meltdown
- Ausbleibende Hilfe in Krisensituationen, bzw. erschwerter, nicht barrierefreier Zugang zu Hilfen
- Dauerhafte sensorische Überforderung
- Perfektionismus und Leistungsdruck
- Fatigue
- ….
Mir selbst fällt es oft schwer zu akzeptieren, dass ich in keiner Weise mehr belastbar bin. Es ist zb. keine Seltenheit, dass ich tagelang tagsüber kaum mehr schaffe, als die Spülmaschine auszuräumen. Ich nehme mir immer etwas vor, was ich schaffen möchte, oder mache Pläne, muss mich aber immer wieder kurzfristig anders entscheiden. Beispielsweise konnte ich früher während einer Attacke arbeiten gehen. Heute kann ich zusätzliche Belastungen nicht mehr kompensieren. Ich frage mich immer wieder, wie ich es jemals schaffen konnte zur Schule oder arbeiten zu gehen. Auch ich muss mich dabei immer wieder erinnern, welche Dinge mir in den Vergangenheit Löcher in mein Gefäß zugefügt haben, und welche Belastungen mein Alltag grundsätzlich mit sich bringt.
Mir persönlich hilft es aber, mir immer wieder vor Augen zu führen, auch mittels Symbolik, welche Auswirkungen das in der Realität hat. Ich kann dann durchaus besser erkennen, dass ich nicht einfach faul bin, und verstehe besser, warum es mir und anderen AutistInnen mit zunehmendem Alter schwerer fällt, den Alltag zu bewältigen oder warum sogar der Unterstützungsbedarf steigt.
Also, wenn es euch so geht und ihr vielleicht sogar daran zweifelt, dass dieser Umstand seine Berechtigung hat, denkt an euer Gefäß, dass euch euren individuellen Lebensweg aufzeigt. Ich versuche, mich immer wieder in Akzeptanz zu üben, gnädig mit mir zu sein (was auch mir nicht oft gelingt) und aber auch mit meinen Grenzen achtsam und verantwortungsbewusst umzugehen. Nein zu sagen, ist eine der besten Errungenschaften hierbei.
Anmerkung: die Symbolik mit dem löchrigen Gefäß soll keinesfalls sinnbildlich für irgendeine Art von Beschädigung stehen. Kaputt oder auf eine Art beschädigt sind wir nicht. Das Gefäß steht nicht für mich als Mensch, sondern symbolisiert meinen „Treibstofftank“, der aufgrund individueller Umstände und Erlebnisse verbraucht wird.
Des Weiteren bin ich mir bewusst, dass bei vielen Diagnosen ähnliche Umstände auf einen Verlauf Auswirkung haben. Hier geht es jedoch explizit auch um die Frage, warum gerade autistische Menschen oftmals erst sehr spät diagnostiziert werden, deren Unterstützungsbedarf steigt oder sie nicht mehr bzw. weniger belastbar sind.