Autistischer Meltdown

Als autistischen Meltdown beschreibt man den Zustand, in dem eine autistische Person nicht mehr in der Lage ist, Reize zu kompensieren, Anforderungen zu erfüllen, sich anzupassen  oder Überforderung auszuhalten. Es reicht eine Kleinigkeit und all das, was sich vorher angesammelt hat, entlädt sich explosionsartig. Es ist wie ein Vulkan, der aufgrund von zu viel Druck ausbricht. Meist gibt es im Vorfeld bereits einen Overload, einen Zustand sehr starker Reizüberflutung. Ein Meltdown geht oft mit totalem Kontrollverlust einher und wird mitunter von allerlei körperlichen Symptomen begleitet. Wenn man es in diesem Zustand schafft, Reize und Anforderungen zu minimieren, für Ruhe zu sorgen, dann kann man möglicherweise den Meltdown noch abwenden. 

Meine Meltdowns werden nahezu immer durch emotionale Überforderung ausgelöst. Im Vorfeld kann durchaus eine sensorische Überreizung durch Lautstärke, Licht oder zu viele Menschen in einen Overload geführt haben, aber der Tropfen, der das Fass sprichwörtlich zum Überlaufen bringt, ist immer eine Emotion. Frustration, Wut, Angst, Traurigkeit sind hierbei die Emotionen, die ich dann nicht mehr ertragen kann. Bei Kindern ist das dann der Effekt, der Außenstehende oft von einem Wutanfall sprechen lässt. Es sieht so aus, als wäre das Kind nur wütend, weil es nicht bekommt, was es möchte. Dieses „man bekommt nicht, was man möchte“ würde ich eher beschreiben als „man bekommt nicht, was man braucht um sich besser oder sicher fühlen zu können“. Ich kann aber auch ohne vorherigen Overload, nur durch die Intensität meiner Emotionen innerhalb von Sekunden in einen Meltdown rutschen. Eine Absage bzw. der Umstand, dass ein Bedürfnis nicht erfüllt werden kann, ist in so einem Moment die absolute Hölle. Dabei handelt es sich fast immer um vermeintliche Kleinigkeiten: 

  • Ein bestimmtes Gericht, dass ich essen möchte. 
  • Ein Spiel, das ich auf dem Tablet spielen möchte.
  • Eine Serie, die ich schauen möchte. 
  • Ein Kleidungsstück, das ich anziehen möchte. 
  • Rückzug, den ich mir suche. 
  • Eine Decke, in die ich mich einkuscheln möchte. 
  • Ein bestimmter Tee, den ich trinken möchte. 
  • Etwas, was ich einkaufen möchte. 
  • Ein fester, geplanter Ablauf in meinem Kopf…

Wenn dann eine kleine Variable nicht passt, kann ich den Meltdown möglicherweise nicht mehr aufhalten. Das kann bereits eine geänderte Zutat bei meinem Lieblingsgericht sein. Denn das bedeutet, dass der erwünschte Effekt nicht eintreten kann und mir somit das gute Gefühl verwehrt bleibt. Das gute, erwünschte Gefühl tritt nicht ein und stattdessen durchströmt mich eine Fülle an negativen Emotionen. Dass Emotionen auch Reize sind, vergessen die meisten Menschen. Auch Emotionen tragen also zu dieser Reizüberflutung bei. Es kann gerade bei autistischen Kindern durchaus sein, dass etwas als Wutanfall beginnt, aber nahtlos in einen Meltdown übergeht. 

Ich versuche, so lange die Kontrolle zu behalten, dass ich keinen Meltdown in der Öffentlichkeit erleben muss. Das ist mir zweimal passiert und es gehört zu den schlimmsten Dingen, diemir widerfahren sind. Ich versuche also, den Meltdown hinauszuzögern. Das Problem beim Rauszögern eines Meltdowns ist aber, dass dies unheimlich anstrengend ist, und eigentlich die Kapazitäten dafür fehlen. Ich muss mich derart auf mich konzentrieren, dass mir meine Umgebung noch bedrohlicher vorkommt und ich mich gleichzeitig noch intensiver wahrnehme. Meinen letzten Meltdown konnte ich zunächst hinauszögern, allerdings war schon klar, dass eine Kleinigkeit reicht, um die Kontrolle verlieren. 

Meine ganze Woche war bis dahin schon relativ schwierig und ich wusste, dass ich im Laufe dieser Woche Aufgaben bewerkstelligen muss, die zum einen meine Angststörung triggern, und zum anderen allgemein zu Overloads führen können. Aufgrund der aktuellen Umstände (Corona-Lockdown) entschied ich an diesem Tag einen Großeinkauf zu machen, den sonst immer mein Mann übernimmt. Seit der Pandemie mache ich relativ wenige Einkäufe, da ich durch die Maske schnell die Orientierung verlieren kann. Wenn, dann gehe ich nur in bekannte Geschäfte und lege mir meine Route bereits im Vorfeld im Kopf zurecht. Mein Mann ist derzeit krank und kann diesen Einkauf also nicht übernehmen. 

Meine Probleme beim Einkaufen sind die Geräusche, das Licht, die visuelle Überforderung und Menschen. Zusätzlich habe ich durch die Maske weniger Kapazitäten, diese Reize zu kompensieren. Ich finde im Regal nur nach langer Suche etwas, weil alles gleich aussieht und ich optisch von anderen Produkten abgelenkt werde. Je voller es ist, je mehr Wägen und Warenstapler in den Gängen stehen, desto schneller verliere ich die Orientierung. So auch in diesem Fall. Nach einem Drittel des Einkaufes war ich überfordert, bekam Schweißausbrüche, keine Luft mehr, fand kaum noch Waren im Regal und vergaß Dinge, musste deswegen zurück und der Einkauf zog sich immer mehr in die Länge. Ich bekam einen Tunnelblick, nahm mich extrem präsent wahr und fühlte mich wie gehetzt. Ich wollte so schnell wie möglich aus diesem Laden raus. Dabei schien mir jeder Mensch im Weg zu sein. Ich versuchte, auf meine Atmung zu achten und mir immer wieder zu sagen „warte, bis zu du Hause bist“. Unter meiner Maske schwitzte ich extrem, und obwohl ich nur einen Hoodie anhatte, waren meine Haare bereits nass. Alles war mir zu eng, zu heiß, kein Ausweg, zu viele Menschen, die meinen Ausweg verzögerten. 

Auf dem Parkplatz lud ich die Waren in mein Auto und war schon kurz davor, in Tränen auszubrechen. Ich kann mich quasi nicht erinnern, welche Strecke ich nach Hause fuhr, ob es voll war oder nicht. Die Tüten waren viel zu schwer, so dass ich sie kaum die Treppe hoch bekam, nach der vorletzten Tüte stand ich zitternd im Flur. Meine Muskulatur war schon völlig überreizt. 

Ich konnte kurzzeitig etwas zur Ruhe kommen, explodierte aber wenige Stunden später, vor allem auch, weil jede Person in meinem Umfeld sich gar nicht mehr wirklich richtig verhalten kann. Es fühlt sich alles, jede Reaktion oder jede ausbleibende Reaktion, wie ein Angriff an. Ein Gefühl absoluter Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und des Kontrollverlustes wird übermächtig.

Es heißt ja immer, Autismus dürfe keine Entschuldigung sein dafür, dass man sich anderen gegenüber nicht adäquat verhält. Ich sag euch was, in der Situation ist das Letzte, was man kann, sich sozial angepasst, nett und freundlich zu verhalten. Man ist enorm gereizt, reagiert einsilbig oder gar nicht mehr auf andere. Dafür sind im Grunde keine Kapazitäten mehr vorhanden. Ich will auch ich gereizt o.ä. reagieren, aber ich habe mich nicht im Griff. Ich nehme mich über die Maßen wahr. Mein persönlicher Stress ist das einzige, was ich empfinden kann. Dazu bin ich nicht in der Lage, zu kommunizieren, wie es mir geht, und was ich brauche. Ich reagiere nur noch abwehrend und mitunter einfach ungerecht. Ich mag mich so nicht, ich will das nicht, aber für mehr kann ich keine Energie aufbringen. Ich nehme auch nicht wahr, ob es jemand anderem in meinem Umfeld schlecht geht. Jeder, der Dinge sagt wie „du kannst nicht alles damit entschuldigen“ soll mir zeigen, dass er nie einen Moment hat, in dem er nicht mehr funktionieren kann. Und wenn es nicht sozial vermeintlich unangemessenes Verhalten ist, dann ist es vielleicht was anderes, wie eine extrem chaotische Wohnung, der Verlust von Alltagskompetenzen, ein riesiger Stapel ungeöffnete und unbearbeitete Post oder Ähnliches. Kontrollverlust zeigt sich auf viele Arten. 

Ich schäme mich unendlich, wenn ich in dieser Phase bin, und das ist oft schon Grund genug, um den Meltdown auszulösen.  

In einem Meltdown greife ich niemanden an, aber es kann durchaus passieren, dass ich Gegenstände durch die Gegend werfe, oder mich selbst verletze. Während eines Meltdown habe ich massive Panik, körperliche Anspannung und das Gefühl, flüchten zu müssen, aber nicht zu können. Mein Körper brennt, und ich fühle tausend Nadeln auf der Haut. Ich weine und kann mich nicht beruhigen. In diesem Moment nutze ich schmerzhafte Reize, indem ich mich kratze, beiße oder meine Fingernägel tief in die Haut grabe. Um Hilfe nicht bitten zu können, und gleichzeitig so dringend Hilfe zu benötigen, ist unglaublich und furchtbar überwältigend. Ich möchte laut um Hilfe schreien und schaffe es nicht. Ich schäme mich unendlich. Es gibt keinen Moment, in dem ich mich einsamer fühle. Ich brauche eigentlich eine Brücke, die ich nicht bauen kann. Da ich sie nicht habe, verhungere ich innerlich auf der anderen Seite. Andererseits bin ich mir nicht mal sicher, ob ich Hilfe wirklich annehmen könnte, denn im Grunde fühlt sich ja jede Ansprache wie ein Angriff an.  

Wenn der Meltdown abebbt, fühle ich mich taub, gedämpft und leer. Emotionen kommen nicht mehr an. Selbst meine Angst kann ich nicht mehr wahrnehmen, meine Gefühle sind komplett abgespalten. Es sieht nach außen hin so aus, als könnte ich wieder funktionieren. Dabei bin ich nur betäubt und funktioniere vor allem deswegen, weil ich mich nicht mehr wahrnehmen kann. Dieser Zustand kann Tage dauern. Leider kommen noch allerlei körperliche Symptome hinzu. Meine chronische Migräne ist stark angetriggert, so dass ich jetzt wieder für einen längeren Zeitraum mit täglichen Attacken rechnen muss. Mein Asthma erscheint mir schlimmer, wobei ich nicht weiß, ob das daran liegen könnte, dass ich mich so sehr wahrnehme. Meine Muskulatur wirkt schwach und überreizt (so als hätte ich Extremsport betrieben).  

Ich glaube, eine außenstehende Person wird diesen Zustand kaum je nachvollziehen können, es sei denn, sie hat ihn selbst einmal erlebt. Ich wünsche niemandem einen Meltdown, aber ich denke schon, es würde die Sensibilität im Umgang mit AutistInnen deutlich erhöhen, würde das Umfeld wissen, welchen Leidensdruck man in diesem Moment aushalten muss. Das Umfeld versteht häufig nicht, welch massiver Trigger Emotionen sein können, und reagiert verständnislos. Der Umgang mit Meltdowns durch das Umfeld, kann eines der Dinge sein, die Traumata auslösen.