Welt-Autismus-Tag – Meine Gedanken

Jährlich am 2. April wird wer begangen, der Welt-Autismus-Tag. Eingeführt 2007 durch die Vereinten Nationen, fand er zum ersten Mal 2008 statt. Ziel sollte es sein, Barrieren sichtbar zu machen und diese aufzubrechen.

Was an sich nett gedacht ist, finde ich in der Umsetzung insgesamt eher weniger gelungen.

Dabei will ich ihn gar nicht komplett so negativ sehen, aber das, was aus diesem Tag mittlerweile geworden ist, kann ich aus autistischer Sicht nicht befürworten.

Ich versuche das so zu erklären, dass sich niemand angegriffen fühlen muss, niemand soll dadurch beschämt werden. Vielen sind diese Dinge einfach nicht bewusst, und es steckt kein böser Wille dahinter. Ich selbst habe zu vielen Dingen meine Einstellungen überdenken und kritisch hinterfragen müssen. Das ist ein Prozess, bei dem aber auch niemand gezwungen ist, meine Sicht der Dinge zu übernehmen. Deswegen bitte ich diesen Beitrag als Einordnung der verschiedenen Aspekte zu sehen.

Wie gesagt, an sich ist die Idee des Welt-Autismus-Tages auf den ersten Blick nicht schlecht, leider wird er aber geprägt durch Aktionen, die unter anderem eindeutigen Bezug zur Organisation Autism Speaks haben. Öffentliche Gebäude werden beispielsweise blau angeleuchtet (das blaue Puzzleteil war das ursprüngliche Symbol von Autism Speaks, bevor man sich der Farbgebung der autistic Pride Bewegung (regenbogenfarben) bediente). Unter dem Motto „light it up blue“ werden verschiedene Aktionen geplant. Autismus-Zentren schmücken sich beispielsweise mit blauen Luftballons. Als autistische Person hat man den Eindruck, im April wimmelt es nur so von blauen  Puzzleteilen. Hersteller von Autism-Awareness-Produkten vertreiben in dieser Zeit besonders viele Designs mit blauen Puzzleteilen, meist unter dem Motto „in April wear blue“. Wo man hinsieht, alles steht unter dem Motto „light it up blue“. Es scheint fast so, als habe Autism Speaks diesen Tag für sich übernommen. Tatsächlich macht auch gerade in dieser Zeit die Organisation einige Aktionen, die vor allem Spenden generieren sollen, so finden beispielsweise Spenden-Läufe und verschiedene Marketing-Events statt.

Dabei ist es nicht so, dass Autism Speaks das hierbei gesammelte Geld Betroffenen und ihren Angehörigen zugute kommen lässt. 90% der Einnahmen fließen in die Öffentlichkeitsarbeit und vor allem in Forschung, die kein geringeres Ziel hat, als Autismus auszurotten. Immer wieder schockiert die Organisation mit Aussagen, die belegen, dass es im Grunde um eine Zukunftsvision ohne autistische Menschen geht. Weiterhin unterstützt die Organisation die sehr umstrittene Therapieform ABA und eine grundsätzlich defizitäre Sichtweise auf Autismus (alles nachzulesen im 100 Day Kit). Eltern werden darin bestärkt, dass sie Opfer des Autismus sind, der Besitz von ihren Kindern genommen hat. Eine alles andere als gesunde Sicht auf das eigene Kind. Mit dem vermeintlichen Leid von Eltern lassen sich viele Spendengelder generieren. Immerhin kommen so jährlich bis zu 60 Mio. $ zusammen. Autism Speaks prägt die Sicht auf Autismus in den USA, aber auch weltweit.

Autism Speaks ist auch (aber nicht nur) ein Grund, warum das Puzzleteil als Symbol für Autismus unter autistischen Personen mittlerweile immer mehr abgelehnt wird.

Dennoch wird dieses Symbol sehr medienwirksam eingesetzt, und ist letztendlich auch Bestandteil einer regelrechten Industrie. Kleidungsstücke, Schmuck und Accessoires werden unter dem Motto „Autism Awareness“ mit dem Puzzleteil und einem markigen Spruch versehen und für viel Geld unter die Leute gebracht. Eltern autistischer Kinder sind ein nicht zu unterschätzender Absatzmarkt. Dabei ist es nicht Awareness, also Bewusstsein, was wir wollen. Wir wollen echte Akzeptanz, Wertschätzung, Mitbestimmung, Selbstbestimmung, Teilhabe.

Das Puzzleteile ist nicht zuletzt auch kein Symbol, dass die Community sich selbst gewählt hat, wird aber inflationär für Autismus genutzt. Da es so präsent ist, ist es letztendlich auch eines der ersten Dinge, auf die Betroffene und ihre Angehörige auf der Suche nach Informationen stoßen.

Die Bedürfnisse autistischer Menschen rücken bei all dem immer mehr in den Hintergrund, während die Inszenierung von Organisationen die Oberhand gewinnt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema findet kaum statt. Das liegt sicher nicht immer daran, dass es nicht gewünscht oder unterstützt wird, sondern leider auch daran, dass im europäischen Raum diese Kritik noch recht neu ist. Zwar sind längst nicht alle therapeutischen Einrichtungen oder auch Angehörige bereit, das alles kritisch zu hinterfragen, immerhin müsste man dann auch den eigenen Umgang damit und mitunter auch die eigene Arbeit überdenken, aber vereinzelt ist die Bereitschaft dazu da.

Wenn wir mal ehrlich sind, müssen wir uns folgende Frage stellen: Was haben autistische Menschen tatsächlich von diesem Tag? Ändert sich dadurch irgendetwas in der Wahrnehmung der Menschen und dem Umgang mit autistischen Bedürfnissen? Was hat es mit Aufklärung über Barrierefreiheit zu tun, wenn Gebäude blau angestrahlt werden, und verschiedene Konzerne Autism Awareness Produkte an den Mann bringen?

Im echten Leben kann man bei einer Unterhaltung mit Außenstehenden (damit meine ich LehrerInnen, ÄrztInnen, TherapeutInnen, Schulbegleitungen…) innerhalb von Minuten ein ganzes Bullshit-Bingo füllen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es eine Studie zu Lebenszeitkosten von AutistInnen gibt. Das muss man sich mal vorstellen. Inklusion wird, wenn überhaupt, meist nur auf dem Papier praktiziert. Menschen wird Hilfe vorenthalten, weil andere Menschen meinen zu wissen, wie eingeschränkt jemand bei gleichzeitig vorhandenen Kompetenzen zu sein hat oder eben nicht. Viel zu oft müssen Betroffene den Klageweg gehen, um zu ihrem Recht zu kommen. Den Rest des Jahres scheint das kaum jemanden zu interessieren. Aber Hauptsache an diesem einen Tag geben sich Organisationen und Medien betroffen. Es fühlt sich für mich meist nicht echt an.

Natürlich gibt es sie auch, die Einrichtungen, Praxen und Schulen, die bereit sind, ganz unkonventionelle Wege zu gehen und mit autistischen Menschen in Austausch auf Augenhöhe gehen. Aber sie sind weit unterrepräsentiert.

Der ganze Tag bekommt daher für viele autistische Menschen einen negativen Beigeschmack, werden sie doch instrumentalisiert aber gleichzeitig kaum gehört. Mitbestimmung unter dem Motto #NothingAboutUsWithoutUs sieht jedenfalls anders aus.

Die autistische Community wird, verständlicherweise, in den letzten Jahren immer lauter, und fordert konsequent Teilhabe und vor allem Mitbestimmung ein. Gerade aber Autism Speaks blockiert diesen Austausch mit VetreterInnen der Community seit Jahren. Die Organisation zeigt im Umgang mit autistischen Menschen regelmäßig, worum es ihr geht oder eben nicht geht.

Da diese VertreterInnen bis vor wenigen Jahren praktisch nicht gehört und ernst genommen wurden, sind daraus einige Gegenbewegungen entstanden:

Die Community wird dabei immer selbstbewusster und steht häufig breit aufgestellt für sich ein. Vor allem auch online kann hier eine große Reichweite erzielt werden. „Neulinge“ auf dem Gebiet können unter einschlägigen Hashtags schnell Kontakt und tatsächlich auch Hilfe bekommen. Man ist vernetzt und kann so schnell eine große Menge an autistischen FürsprecherInnen erreichen, die sich gegenseitig unterstützen und so zum einen große Aktionen planen, aber auch kritische Themen in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. So geschah es beispielsweise vor der Premiere von Sias Film „Music“ oder aber auch als die Influenzerin Mika Stauffer ihren autistischen Adoptivsohn (den sie zuvor medienwirksam in ihre Familie einführte) kurzerhand abschob, als dieser für sie „unangemessenes“ Verhalten zeigte. Der autistischen Community und ihrem konsequenten Einstehen füreinander ist es zu verdanken, dass die Öffentlichkeit überhaupt auf diese Themen aufmerksam wurde.

Jetzt heißt das alles nicht, dass man diesen Tag nicht begehen muss, aber eine kritische Auseinandersetzung damit ist mehr als überfällig. Vor allem muss man endlich autistische Menschen mitbestimmen  lassen und mit ihnen in den Austausch gehen darüber, welche Barrieren ihnen im Alltag begegnen, wo und wie sie Diskriminierungserfahrungen machen und wie sie sich ihre Teilhabe im Alltag wünschen.

Angehörige aber auch Organisationen können in dieser Zeit ihre Solidarität ausdrücken, indem sie beispielsweise die selbstgewählte Symbolik der autistischen Community verwenden: Das Infinity Symbol in regenbogenfarben (die verschiedenen Farben symbolisieren hierbei das Spektrum, das so groß und vielfältig ist, wie es autistische Menschen gibt), oder auch in rot (als Gegenpol zu „light it up blue“ wird hier der Hashtag #redinstead genutzt) bzw. gold (das chemische Symbol für Gold au steht hierbei für die ersten beiden Buchstaben des Wortes „autistic“, daher auch die Verwendung des Kürzels Âû in Online Namen. Passend dazu beispielsweise die Aktion „our golden moment“ als Antwort auf den Weltautismustag, seit 2020). Anlässlich des Weltautismustages schließen sich autistische FürsprecherInnen zusammen, um laut und unbequem aber respektvoll für autistische Rechte einzustehen, denn autistische Rechte sind Menschenrechte.  

Auch ist es hilfreich, kritische Beiträge autistischer FürsprecherInnen zu teilen und für das Thema in Einrichtungen, Familien und generell gesellschaftlich zu sensibilisieren. Denn wenn wir bedenken, welche Organisationen und welche Sicht auf Autismus immer noch den Umgang mit autistischen Menschen prägen, müssen wir lauter und noch präsenter werden. Helft autistischen Menschen dabei und seid solidarisch. Steht denjenigen bei, die Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren. Nehmt autistische Menschen ernst, die den Umgang mit Autismus kritisieren, auch wenn das bedeutet, sich selbst hinterfragen zu müssen. Für Außenstehende sind diskriminierende Strukturen nicht immer offensichtlich, genauso wenig sind es die eigenen Privilegien. Beides sollte, meiner Ansicht nach, mehr in den Fokus gerückt werden, wenn man sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen möchte. Es reicht eben nicht, einmal im Jahr Artikel oder Dokus zu veröffentlichen, die individuelle Lebens- oder Leidensgeschichten erzählen. Erst recht nicht reicht es, ein Fachbuch gelesen oder in Studium oder Ausbildung mit Autismus konfrontiert worden zu sein. Das hat nichts mit der Lebenswirklichkeit autistischer Menschen zu tun. Wer wirklich verstehen möchte, muss autistischen Menschen zuhören und sollte die eigene, nicht-autistische Perspektive nicht über die autistische stellen.

Ich bin nicht grundsätzlich gegen diesen Tag, aber die Umsetzung empfinde ich oftmals mehr als unglücklich und im Grunde auch am Thema vorbei. Es geht doch eigentlich nicht mehr um Aufklärung oder mehr Sichtbarkeit von AutistInnen und deren Barrieren im Alltag. Der Welt-Autismus-Tag ist für mich derzeit meist nichts anderes als eine Inszenierung und Mittel zum Zweck der Spendengenerierung über die Köpfe und Bedürfnisse autistischer Menschen hinweg. Diese Diskrepanz zwischen dem Ziel, AutistInnen mehr Teilhabe zu ermöglichen, und der aktuellen Ausrichtung, ist eine der diskriminierenden Strukturen, die es abzubauen gilt.

Bei aller Kritik, soll das keinesfalls die Mühen derjenigen schmälern, die den Alltag autistischer Menschen ein Stück weit einfacher und besser machen. Diese Menschen gibt es tatsächlich auch. Zusammenarbeit kann durchaus gelingen und jede/r kann davon profitieren.

Zuletzt hier ein paar Beispiele für Organisationen, die im Sinne von AutistInnen für AutistInnen arbeiten:

  • ASAN (Autistic Self Advocacy Network)
  • AIM (Autistic Inclusive Meets)
  • A4A (Autistics for Autistics)
  • awn network (autistic women & nonbinary network)
  • White Unicorn e.V.

Unter diesen Hashtags findet ihr eine Fülle an Beiträgen autistischer AktivistInnen, deren Blogs ich nur empfehlen kann.

  • #redinstead
  • #LightItUpGold
  • #AutismAcceptance
  • #PeopleNotPuzzels
  • #NothingAboutUsWithoutUs
  • #AutisticPride
  • #actuallyautistic
  • #AskingAutistics
  • #ProudlyAutistic
  • #SayNoToABA
  • #TakeOffTheMask

Anmerkung: dieser Text spiegelt meine persönliche Sichtweise wider. Ich bin mir bewusst, dass diese nicht von allen AutistInnen und deren Angehörigen so geteilt wird. Das erwarte ich auch nicht. Mir ist die Sensibilisierung für bestimmte Strukturen, die ich als diskriminierend wahrnehme, wichtig. Dieser Beitrag ist kein Angriff sondern dient der Aufklärung, wie ich sie befürworte.