Der Verlust von Alltagskompetenzen

Ich lese ganz oft von Eltern, dass sie sich fragen, ob es wirklich sein kann, dass einE AutistIn im Overload oder allgemein in Stresssituationen Alltagskompentenzen verliert. Also Dinge, die man eigentlich kann und oft sogar ganz nebenher erledigt, ohne dass der Fokus darauf liegt. 

Ganz klar kann ich diese Frage mit „ja“ beantworten. 

Wenn ich im Overload bin, dann kann ich das im optimalsten Fall noch einigermaßen ausbalancieren. Dann merke ich diese Einschränkung lediglich daran, dass ich beispielsweise beim Tippen von Texten die meisten Wörter mehrfach (bis zu 10 mal) berichtigen muss, obwohl die Worterkennung das meiste ja eh schon richtig einsetzt. Das ist für mich ein klares Signal, sofort in den Rückzug zu gehen, Reize und Anforderungen zu minimieren. Ich habe für mich Dinge, die mir gut tun und die ich dann anwende. 

Das geht nur nicht immer, insbesondere dann nicht, wenn es mir gesundheitlich nicht gut geht, wenn die Anforderungen dauerhaft sehr hoch sind und sich Aufgaben auch nicht an andere delegieren lassen. Das ist aktuell bei mir der Fall. Durch Homeschooling und Homeoffice meines Mannes habe ich keine Alleinzeit mehr. Auch die Anwesenheit von Menschen in anderen Räumen empfinde ich als Reize. Meine Schmerzerkrankungen sind gerade sehr schlimm, so dass alleine dadurch schon permanent überreizt bin und im Moment deswegen nur auf „Sparflamme“ funktionieren kann. Nach einer Stunde Homeschooling sind meine Kapazitäten erschöpft. 

Normalerweise koordiniere ich zu Hause alle Abläufe und nötigen Erledigungen, die Hilfen für meinen Sohn, sämtliche Anträge und Ablauffristen. Das heißt für mich, dass ich immer alles im Kopf haben muss.

Aber derzeit ist mein Kopf voll, ich kann keine Informationen mehr aufnehmen oder Aufgaben adäquat umsetzen. Kürzlich scheiterte es beispielsweise schon daran, Brötchen aufzubacken. Zuerst habe ich es schlicht vergessen, dann habe ich sie in den Ofen getan, ohne ihn anzustellen. Solche Dinge passieren dann über den Tag gehäuft. Meistens beginnt es derzeit am frühen Nachmittag.

Ich vergesse Termine, was aufgrund meiner autistischen Einstellung, immer pünktlich sein zu müssen, für mich hochproblematisch ist. Ich vergesse zu trinken. Ich mache mir einen Kaffee oder Tee, den ich dann vergesse. Ich vergesse zu tanken und ohnehin sollte ich so besser kein Auto mehr fahren. Ich habe nur noch einen Tunnelblick und kann schlechter reagieren. Die Orientierung kommt mir eh völlig abhanden. In Geschäften finde ich Dinge, die ich kaufen möchte nicht mehr, da mir zum einen die Orientierung fehlt und zum anderen ich aufgrund der vielen visuellen Eindrücke nicht das sehe, was ich suche. Mir fallen permanent Dinge runter oder ich renne irgendwo dagegen. 

Ab dem Nachmittag möchte ich nicht mehr kommunizieren, weder mündlich noch schriftlich. Ansprache klingelt schmerzhaft in den Ohren. Ich vergesse, was man mir vor wenigen Sekunden sagte, oder nehme es gar nicht auf. Sprechen fällt mir schwer, bzw. möchte ich gar nicht mehr sprechen. Auch habe ich dann wahnsinnig Probleme mit Wortfindungstörungen. Manchmal möchte ich am liebsten verstummen. Ich denke, das passiert nur deshalb nicht, weil ich es mir nicht erlaube. Selbst da maskiere ich noch. Das Masking betreibe ich nach wie vor exzessiv. Dasselbe gilt übrigens für schriftliche Kommunikation. Ich will einfach nicht mehr und fühle mich auch unfähig, richtig zu reagieren. Das bedeutet, ich bin um ein Vielfaches gereizter, kann Ironie schlechter erkennen oder generell Aussagen in ihrer Bedeutung verstehen. Kommunikation darf dann keine Konflikte – die kann ich ohnehin schon kaum aushalten – mehr beinhalten, und muss für mich möglichst einfach einzuordnen sein in ihrer Bedeutung. Das kann ich zwar gut überspielen, aber in mir herrscht dann eine große Unsicherheit. 

Der erste ruhige Moment am frühen Abend, und es bricht über mich hinein. Ich bekomme Panik, werde unendlich müde und es reicht eine Kleinigkeit, um in Tränen auszubrechen. Da muss mir nur mein Besteck runter fallen, und in meinem Kopf spielt sich ein furchtbares Drama ab. Es ist für mich dann eine Katastrophe, und entsprechend reagiere ich. Nebenbei bemerkt ist das dann das, was bei autistischen Kindern von Außenstehenden gerne als Wutanfall interpretiert wird. Entsprechend sind dann die Reaktionen, dass man sowas auf keinen Fall durchgehen lassen dürfe. Sätze wie „also bei mir würde es das nicht geben“ oder „auch einE AutistIn muss lernen, dass es so nicht geht“ werden dann  oftmals obligatorisch rausgehauen, ohne dass auch nur im Ansatz erkannt wird, wie es dem Kind geht und dass es Hilfe benötigt. Im schlimmsten Fall wird ein Kind dann auch noch bestraft dafür, dass es einen Meltdown erleben musste. 

Man kann als außenstehende Person also durchaus darin auch sichere Anzeichen dafür erkennen, dass mindestens ein Overload da ist, oder aber ein Meltdown bevorstehen könnte. Lässt ein Kind viel fallen, wirkt es fahrig, kann sich schlechter konzentrieren, spricht verwaschener, reagiert gereizter auf Ansprache usw…, dann sind das sichere Zeichen dafür, dass es jetzt an der Zeit ist, die Anforderungen runter zu schrauben und Reize zu minimieren. 

Wie gesagt, diese Kleinigkeiten über den Tag häufen sich dann. Ich finde das extrem frustrierend. Es fühlt sich an, als wäre ich in mir gefangen. Es macht mich wütend, wenn ich daran denke, was ich früher alles schaffen konnte. Ich habe ein Studium und eine Zusatzausbildung abgeschlossen. Ich bin arbeiten gegangen, trotzdem ich eine chronische Schmerzerkrankung, eine Angststörung und Depressionen hatte. Ich glaube mittlerweile, dass genau das der Punkt ist. Ich habe all das gemacht, mir Aufgaben und Verantwortung aufgeladen, erkannte dabei meine Grenzen nicht und habe mir dadurch massiv dauerhaft geschadet. Ja, ich weiß, ich bin jetzt auch Mutter und muss auch diese Herausforderungen täglich meistern. Dennoch fällt es mir in diesen Momenten sehr schwer zu akzeptieren, dass meine Löffel viel schneller aufgebraucht sind, als die vieler neurotypischer bzw. gesunder (bezogen auf meine anderen Diagnosen neben Autismus) Menschen. 

Was in dieser Situation überhaupt nicht hilfreich ist, ist der betreffenden Person bzw. dem Kind Vorwürfe machen. Sätze wie: „Aber sonst kannst du das doch auch.“ oder „Das nehme ich dir jetzt nicht ab, dass du so plötzlich nicht mehr xy (zb. schreiben) kannst.“ 

Das verschlimmert die Situation an sich. Es ist erniedrigend und zieht das Problem ins Lächerliche. Und das in einem Moment, in dem man besonders angreifbar ist. Es ist weder Absicht, noch kann man sich mittels ein „wenig Zusammenreißen“ daraus befreien. 

Am besten nimmt man die Problematik einfach so an, wie sie ist, nimmt Druck raus, schraubt Anforderungen herunter und bietet Hilfe an. Für mich ist es dann schon eine Entlastung, wenn ich mich dann völlig zurück ziehen und Aufgaben auch mal abgeben darf. 

Grundsätzlich können aber die unterschiedlichsten Kompetenzen so zumindest zeitweise abhanden kommen. Das gilt auch für positiven Stress, der genauso in einen Overload bzw. Meltdown führen kann. Auch Dinge, die Spaß machen, oder die man als neue Kompetenzen erwirbt, rauben Energie. 
Ein Kind, dass beispielsweise gerade eine enorme Entwicklung in der sozialen Interaktion macht, kann sich vielleicht gleichzeitig nicht auf Unterrichtsinhalte konzentrieren. Es kann sein, dass ein Kind eine Aufgabe entweder nur im Kopf lösen oder schriftlich festhalten kann. Beides geht dann möglicherweise nicht. Ich schreibe daher oft die Lösung auf, die mein Sohn mir vorgibt. Die Fähigkeit zu schreiben oder zu sprechen kann zeitweise stark eingeschränkt sein oder völlig abhanden kommen. Auch kann die Art der Kommunikation verändert sein. Ironie oder Sarkasmus wird beispielsweise weniger erkannt. Vermeintlich simple Dinge, wie Anziehen oder Zähne putzen können möglicherweise nicht mehr ausgeführt werden. Rechts und links auseinanderzuhalten könnte schwierig werden, genauso wie die Raum-Lage-Orientierung. Fein- oder aber Grobmotorik können gestört sein. Visuelle Eindrücke können nicht mehr gefiltert werden (betrifft zb. den Inhalt einer Webseite). Das Verarbeiten von Informationen gelingt nicht mehr.  

Man könnte das wahrscheinlich unendlich weiter führen, da hat wahrscheinlich jedeR ganz unterschiedliche, individuelle Dinge, die dann Schwierigkeiten bereiten. Egal wie sich dieses Phänomen jedoch zeigt, keinE AutistIn sollte dafür beschämt werden oder sich entschuldigen müssen.