Mit 37 Jahren habe ich meine Autismus-Diagnose bekommen.
Oft wird man ja gefragt, warum man überhaupt eine Diagnostik anstrebt, welchen Sinn das jetzt überhaupt noch macht (gerade im Erwachsenenalter), oder was man sich davon verspricht (meine Intention erläutere ich weiter unten) . Man kann sich ja schließlich auch im Spektrum verorten und es damit gut sein lassen.
Ich selbst erkenne Selbstdiagnosen an. Die wenigsten Menschen sehen sich einfach mal so im Spektrum, sondern haben häufig einen langen Leidensweg hinter sich. Oft fehlt die Kraft für eine Diagnostik, oder auch man maskiert so stark, dass diese möglicherweise ohnehin negativ ausfallen würde. Das muss man erst einmal aushalten können. Zudem sind die Diagnosekriterien veraltet und auf Jungs bzw. Männer ausgelegt. Frauen im Spektrum fallen oft durch das Raster und erhalten eher Fehldiagnosen, wie beispielsweise eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Eine Diagnostik ist immer defizitorientiert und pathologisiert autistisches Verhalten. Alles in allem sind das schon diskriminierende Strukturen. Im Erwachsenenalter die Diagnose Autismus-Spektrum zu erhalten, ist schon nahezu ein Privileg. Ich verstehe jeden, der das nicht durchlaufen möchte oder kann, oder aber auch einfach grundsätzlich eine Selbstdiagnose ausreichend findet.
Angst vor Stigmatisierung hatte ich keine, obwohl es diese durchaus gibt. Aber ich war und bin immer der Meinung, dass man Vorurteile nicht abbauen wird, indem man sich versteckt. Eine Gesellschaft kann nicht lernen, wenn Betroffene selbst nicht benennen können, worum es geht. Der Umgang von Betroffenen mit ihrer Diagnose hat immer eine Außenwirkung.
Grundsätzlich bin ich immer pro Diagnose. Im Normalfall ist es ja so, dass es für einen Verdacht bereits einige Gründe gibt. Entweder bei einem selbst oder dem eigenen Kind fallen einem Dinge auf, die sich in der Summe nicht anders erklären lassen. Häufig ist das auch mit einem gewissen Leidensdruck verbunden. Kinder haben oft schon Probleme im Kindergarten und auch dem häuslichen Umfeld. Spätestens in der Schule wird es für viele dann sehr schwierig, die Probleme häufen sich, teilweise kommt es bereits hier zu komorbiden Erkrankungen oder Traumatisierungen. Dennoch kann es auch bei Kindern Jahre dauern, bis eine Diagnose gestellt wird.
Bei Erwachsenen ist die Diagnostik um ein Vielfaches schwerer, da es weniger Diagnosestellen gibt und sie häufig schon so stark maskieren, dass sie kaum als autistisch auffallen. Gerade Erwachsene haben aber nicht selten einen Leidensweg hinter sich, in dessen Verlauf bereits einige andere Diagnosen (häufig aus dem Bereich der psychischen Erkrankungen) gestellt wurden. Mit zunehmendem Alter und steigenden Anforderungen im Alltag, kommt es häufig vermehrt zu Zusammenbrüchen und/oder autistischen Burnouts. Ich selbst habe vier chronische Erkrankungen, die alle zumindest indirekt durch zu viel Kompensation und Maskieren, aber auch durch meine Wahrnehmung getriggert werden. Nach meinem Studium bekam ich zwei sehr heftige Burnouts, seit dem zweiten bin ich dauerhaft arbeitsunfähig.
Früher dachte ich immer, dass eine Diagnose nicht notwendig wäre, wenn kein Leidensdruck bestünde. Und überhaupt muss man heutzutage ja nicht alles und jeden in eine Schublade stecken. Heute weiß ich, das passiert eh immer. Mit der Diagnose ist man in der Schublade „Autist“, ohne wird man schnell als schrullig, nervig, anstrengend, weinerlich, hysterisch… abgestempelt.
Es lässt sich nie absehen, welche Entwicklung jemand nehmen wird. Kommt es zu einer Krise, dauert es meist, bis man geeignete Stellen und Hilfen findet. Häufig gibt es lange Wartelisten und die Bearbeitung von Anträgen dauert oft auch einige Monate. Diese Zeit hat man während einer Krise nicht, das kann in solchen Fällen wirklich fatal sein. Sinnvoller ist es dann, wenn man bereits auf eine Diagnose zurückgreifen und zumindest das Hilfesystem schnell installieren kann. Zudem ist es gerade bei Kindern so, dass sie mit einem ganz anderen Selbstverständnis aufwachsen können, wenn sie eine Diagnose haben. Kinder spüren, dass sie „anders“ sind, und suchen den Fehler häufig bei sich. Eine Diagnose kann das abfangen. Zu wissen, was bei einem los ist, hilft ungemein. Außerdem hat ein Kind ein Recht auf dieses Wissen. Was es dann im Verlauf seines weiteren Lebens damit macht, kann es selbst entscheiden.
Mein Weg:
Bevor mein Sohn zur Welt kam, hatte ich immer eine ganz große Angst davor, dass es ihm in seiner Kindheit oft so gehen könnte, wie mir. Als Kind war ich oft sehr unglücklich und einfach grundsätzlich verunsichert. Ich entwickelte damals schon Schlafstörungen, soziale Ängste und hatte spätestens in der Pubertät meine erste Depression. Mit 16 bekam ich chronische Migräne.
An Autismus dachte ich zur Zeit meiner Schwangerschaft überhaupt noch gar nicht, und dennoch erscheint es mir im Nachhinein so, als wäre mir zu dieser Zeit zum ersten Mal bewusst geworden, dass da „etwas ist“. Es war nur noch nicht greifbar.
Alles, wovor ich Angst hatte, trat ein. Mein Sohn hatte oft Overloads und Meltdowns, und tat sich mit anderen Kindern immer schwer. Er war sensorisch sehr stark überempfindlich und entsprechend schnell überreizt. Ganz lange sah ich ihn und mich jedoch als hochsensibel an und ehrlich gesagt, suchte ich darin die Lösung für alle seine Probleme. Das Wort „Autismus“ löste anfangs noch sehr viele Ängste aus, und ich war schlicht noch unwissend auf diesem Gebiet.
Drei Jahre waren wir bei ÄrztInnen, bis mein Sohn im Alter von 6 Jahren diagnostiziert wurde. Wir mussten zu dieser Zeit auch Diagnosebögen über uns als Eltern ausfüllen, aber ich wehrte noch jeden Bezug zu mir ab, obwohl meine Bögen natürlich sehr auffällig waren. Damals wurde mir beispielsweise klar, dass ich Menschen nicht oder nur ungern in die Augen schaue.
Als dann bei mir der Gedanke reifte, dass ich doch ,wie mein Sohn, im Spektrum sein könnte, hatte ich zunächst große Angst vor einer Diagnostik, weil ich zum einen eine Ärztephobie habe, und zum anderen das Gefühl hasse, nicht ernst genommen zu werden. Ich dachte, ich hätte keine Kraft dafür. Aber je länger ich diesen Gedanken hatte, desto wichtiger wurde es mir. Ich erkannte mich so oft in meinem Sohn wieder, obwohl ich doch so ganz anders als er bin. Er war und ist in vielen Dingen expressiver, während mein Leidensdruck immer nach innen gerichtet war. Ich maskierte viel mehr als er und tue das heute noch.
Ich vernetzte mich schon früh mit anderen Eltern und vor allem AutistInnen. Ich erkannte so viele Parallelen, insbesondere zu denjenigen, die auch spät diagnostiziert wurden. Gerade der Austausch mit anderen autistischen Frauen bestärkte mich immer mehr, dass mein Verdacht stimmen musste.
Ich wollte eine offizielle Diagnose, einfach um in meinem Gefühl bestätigt zu werden (ich habe über die Jahre und durch permanente negative Rückmeldung internalisiert, dass ich meinen Instinkten nicht trauen kann). Ich hätte sonst immer das Gefühl gehabt, mir oder anderen etwas vor zu machen. Ich brauche solche Dinge für mich schwarz auf weiß, sonst kann ich sie nicht so klar annehmen. Nicht wegen fehlender Akzeptanz, sondern weil mein Kopf sich einfach weigert, den Umstand in seinem vollen Ausmaß zu erkennen und auch umzusetzen.
Zum Zeitpunkt meiner Diagnostik hatte ich keinen Druck, beispielsweise durch eine aktuelle Krise, schnell Hilfen bekommen zu müssen. Es ging dabei also lediglich um mein Gefühl und den Wunsch, es sicher wissen zu wollen.
(Wenn ich sage, dass ich keine Krise hatte, dann ging es mir dennoch nicht gut. Mein Alltag ist geprägt von Depressionen, einer vielfältigen Angststörung, und chronischen Schmerzen.)
Glücklicherweise konnte ich per eMail Kontakt zur Praxis aufnehmen, denn ein Telefongespräch kann sich als so herausfordernd darstellen, dass ich es einfach nicht erledigen kann. Insbesondere dann, wenn es um ein derart wichtiges Anliegen geht, baut sich bei mir extreme Anspannung auf.
Die Termine vor Ort in der Praxis waren sehr anstrengend für mich. Zum ersten Termin musste mich eine gute Freundin begleiten, weil ich Panik vor dem Termin und der Situation an sich hatte, aber auch, weil ich unbekannte Strecken nicht alleine fahren möchte und teilweise auch nicht kann.
Irgendwo hinzufahren, wo ich mich nicht auskenne, ist eine absolute Horrorsituation für mich. Nichts, woran ich mich orientieren kann, alles ist fremd, zu viele visuelle Eindrücke in einer neuen Umgebung…ich war an diesem Morgen schon ein psychisches Wrack, bevor ich überhaupt ankam. Aber so konnte ich während des Termins auch weniger maskieren, was letztendlich gar nicht so schlecht war.
Ich hatte mich gut vorbereitet und mehrere Seiten geschrieben, was mir bei mir auffällt und worauf sich mein Verdacht begründet. Außerdem sollte ich Schul- und Arbeitszeugnisse, sowie Arztberichte von vorherigen Diagnosen mitbringen.
Es gab während der Termine mehrere Interviews, der Ados Test wurde gemacht und mein Lebenslauf besprochen. Ich musste viele Fragebögen ausfüllen, auch um andere Diagnosen auszuschließen. Einige dieser Bögen füllte mein Mann über mich aus.
Damals waren mir einige Dinge noch nicht bewusst, daher gab ich sie auch falsch an, zb. fiel mir erst einige Zeit später auf, dass ich Stimming betreibe, und das eigentlich immerzu. Es ist aber weniger offensichtlich, als es bei anderen AutistInnen der Fall sein kann, aber nicht muss. Dennoch bekam ich die Diagnose Autismus-Spektrum, geht es dabei doch immer auch um die Summe der „Auffälligkeiten“.
In den Wochen danach war ich von tiefer Wut und Panik erfüllt. Ich war total überfordert und wütend auf so viele Dinge, die mich in meinem Leben immer wieder an Punkte gebracht haben, an denen ich fast verzweifelte. Ich war wütend über meine anderen Diagnosen, die sich vielleicht hätten vermeiden lassen, oder in ihrer Ausprägung nicht so massiv ausfallen würden. Dieser Gedanke ließ mich lange nicht los. Ich konnte mich anfangs, bis auf dass ich erleichtert war, noch gar nicht über meine Diagnose freuen. Dieser Umstand hielt etwa sechs Wochen an.
Ich fing in der Folge an, alles abzulehnen, was von mir permanente Anpassung und Funktionieren über meine Grenze hinaus erforderte. Denn das war etwas, was mich gesundheitlich schließlich an diesen Punkt gebracht hat.
Meine Wahrnehmung verschärfte sich plötzlich noch einmal um ein Vielfaches. Ich spürte Overloads auf eine Art, die mich jedesmal, auch heute noch, in Panik versetzt. Was das anging, war es, als hätte sich mit der Diagnose und damit der Bestätigung, ein Schalter umgelegt. Ich erkannte auch, wo und wann ich in der Vergangenheit Meltdowns hatte.
Ich begann meine komplette Vergangenheit neu einzuordnen und mich auf eine völlig neue Art kennen zu lernen. Ich nahm mit einem Mal sehr stark wahr, wann ich überfordert war, wann ich maskierte, und wie sich Reize auf mich auswirken. Ich begann meine Grenzen zu akzeptieren und gestand mir zu, nicht zu funktionieren. In dieser Hinsicht könnte man fast sagen, ich habe Rückschritte gemacht. Denn Fakt ist, ich kann weniger aushalten oder mich anpassen, schwerer maskieren und funktionieren. Außerdem sind meine Ängste stärker geworden, was auch immer wieder mal zu Vermeidungsverhalten führt. Ich glaube aber eher, dass ich mir ihrer mehr bewusst geworden bin. Außenstehende Personen könnten durchaus den Eindruck gewinnen, dass es mir seither schlechter ginge.
Ich nehme all diese Dinge wahr, die sich früher immer nach innen richteten, und mir innerlich sehr viel Schaden zufügten. Aber geht es mir wirklich schlechter? Ich sehe das nicht so. Ich bin sehr froh, dass ich meine Grenzen eher wahrnehme und sie mir auch zugestehen kann. Das ist etwas, was ich davor nie konnte. Früher hatte ich permanent Zusammenbrüche, autistische Burnouts und regelmäßig depressive Episoden. Ich fühlte mich oft falsch, schon seit der Kindheit. Mit der Diagnose kann ich mit all dem meinen Frieden machen. Auch wenn ich mich heute manchmal noch so fremd fühle, dass es weh tut. Dieses Gefühl, nicht passen zu können oder zu wollen, überreizt mich emotional so stark, dass ich relativ schnell einen Meltdown erlebe.
Ich denke, ich bin seitdem ich meine Diagnose habe, für viele anstrengender, lauter und kompromissloser geworden. Ich habe mein Leben lang versucht, es allen recht zu machen, und das passiert mir auch heute noch häufig. Oft reagiere ich zu schnell, ohne vorher in mich hinein zu hören. Erst im Nachhinein fällt mir dann auf, dass ich gar nicht darüber nachgedacht habe, ob ich etwas möchte, oder nicht. Daran arbeite ich.
Trotzdem bin ich heute an einem Punkt, an dem ich viel besser für mich, meine Bedürfnisse und meine Identität einstehen kann. Und wenn das bedeutet, dass ich als anstrengend wahrgenommen werde, dann ist das so. Ich muss lernen, das auszuhalten.
Es geht mir damit also viel besser, als in meinem gesamten Leben vorher. Mein Leben bestand immer daraus, mich fehl am Platz zu fühlen, Anforderungen nicht gerecht werden zu können, funktionieren zu müssen (es aber nicht zu können), und so vieles nicht zu verstehen (was mir erst jetzt bewusst wird). Schlagartig gibt es für all das eine Erklärung. Das hilft mir, mich selbst zu akzeptieren. Ich fühle mich angekommen und ich bin jeden Tag dankbar dafür. Obwohl ich mich vorher schon im Spektrum sah, war mir nicht klar, was mir ohne die offizielle Diagnose fehlte. Das hätte ich im Vorfeld so nie abschätzen können. Aber ich verstehe jeden, der für diesen Prozess entweder die Kraft nicht aufbringen kann oder schlicht auch nicht will.
Ohne meinen Sohn wäre mir dieses Geschenk, denn als solches betrachte ich es, wahrscheinlich nie gemacht worden, er hat mir den Weg zur Autistin in mir gezeigt.