Der „Schwerinordnung-Ausweis“, „besonders“ und andere Euphemismen – warum ich sie nicht mag

Etwas, was ich wirklich nicht leiden kann, sind Euphemismen. Euphemismen sind beschönigende oder mildernde Ausdrücke für Begriffe, die einem unangenehm sind. In diesem Fall das Wort „Behinderung“.

Es gibt da so allerlei Begriffe, die im Alltag relativ häufig Verwendung finden. Der wohl bekannteste ist „besonders“. Ich kann es fast schon nicht mehr hören oder lesen. Das hat sich so durchgesetzt, dass fast jeder weiß, was damit gemeint ist.

Ich persönlich frage mich immer, warum man solche Begriffe nutzt. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es darum geht, eine Behinderung nicht als solche benennen zu wollen. Entweder, weil man Angst vor Stigmatisierung hat, oder weil man im tiefsten Innern selbst eine negative Wertung für den Behinderungsbegriff vornimmt.

Eine Behinderung als solche ist erst einmal etwas, was Betroffenen im Alltag die Teilhabe am (gesellschaftlichen) Leben erschwert. Es gibt sichtbare und unsichtbare Behinderungen, aber jede kann für sich eine Person im Alltag individuell einschränken. Diese Einschränkungen im Alltag sollten bestenfalls durch Inklusion, Nachteilsausgleiche und Barrierefreiheit ausgeglichen werden.

Jetzt erlebe ich es eigentlich täglich, dass Menschen mit Euphemismen arbeiten. Eins davon ist der Schwerinordnung-Ausweis. Eigentlich ist es nur eine Hülle mit der entsprechenden Aufschrift für den Schwerbehinderten-Ausweis. Diesen bekommt man, bei tatsächlichen und sehr einschränkenden Beeinträchtigungen. Das heißt, man wird durch eine Diagnose an der Teilhabe behindert und gehindert. Ja, auch die Gesellschaft behindert diese Teilhabe oft, aber eben nicht nur.

Ich weiß, dass Behinderungen als solche nach wie vor negativ gewertet werden. Ich weiß selbst sehr wohl darum, was es bedeutet, seine Behinderung offen zu benennen, sich zu outen. Gerade deswegen ist es mir so wichtig, dass wir von dieser Wertigkeit weg kommen. Und das werden wir nicht, indem wir irgendwelche Euphemismen wie diesen Ausweis nutzen. Wir selbst sagen damit, dass Behinderungen etwas schlechtes sind, etwas, was man so nicht aussprechen und benennen sollte. Wir zeigen der Gesellschaft damit, dass wir verstehen, warum wir diskriminiert werden. Wir müssen das anders vorleben. Wer, wenn nicht die Betroffenen selbst können da mit positivem Beispiel voran gehen? Vor kurzem stieß mich jemand auf den Begriff „internalisierter Ableismus“. Also eine diskriminierende Einstellung von anderen, die man sich selbst zu eigen gemacht hat. Bei der Verwendung solcher Begriffe passiert genau das, wenn sich sicher nicht bewusst. Man nimmt selbst eine negative Wertung des Behinderungsbegriffes vor, und ersetzt ihn daher, durch vermeintlich wohlmeinendere Ausdrücke. Aber Behinderungen sind ein Teil von Diversität. Sie machen uns nicht schlechter oder besser, als andere Menschen. Man kann das völlig wertfrei betrachten.

Der Punkt ist, niemandem ist damit wirklich geholfen. Die Behinderung als solche ist nach wie vor da. Es kann mir niemand erzählen, dass er durch die Verwendung alternativer Begriffe weniger diskriminiert wird. Stattdessen wird Betroffenen vorgegaukelt, was wir nicht haben: Akzeptanz und Teilhabe. Diskriminierung und Ausgrenzung gibt es aber weiterhin. Nicht-Betroffene können sich vormachen, dass man mit Menschen mit Behinderungen so toll umgeht. Es soll nicht nur Betroffenen ein besseres Gefühl geben, sondern auch Nicht-Betroffenen. Letzteres ist meiner Ansicht nach auch mit ein Grund, warum dieser Vorschlag aufgegriffen und in die Tat umgesetzt wurde. Warum sollte man etwas nur für Menschen mit Behinderungen tun? Das wäre ja fast so, als würde man deren Menschenrechte anerkennen und vor allem umsetzen. Stattdessen wird sich auf solchen Dingen ausgeruht. Ich weiß, das klingt zynisch. An dieser Stelle bleibt mir oft nur noch, zynisch zu reagieren. Ich weiß nämlich, wie das ist, wenn das eigene Kind beispielsweise nicht in den hiesigen Sportverein darf oder nicht zu Aktivitäten mit befreundeten Kindern eingeladen wird (ich habe zb. jahrelang Kinder zum Geburtstag meines Kindes eingeladen, obwohl er selbst keine Einladung erhalten hat). Vor Jahren habe ich mich öffentlich mit einem großen Freizeitpark angelegt, weil dieser es sämtlichen Menschen mit Behinderungen laut der eigenen Agenda verbietet, deren Fahrgeschäfte zu nutzen. Das sind die Dinge, die für mich als Mutter furchtbar sind, aber mein Sohn hat auch selbst sehr schlimme Erfahrungen dahingehend machen müssen, wie aufgrund seines Autismus mit ihm umgegangen wurde. Ich lese jeden Tag davon, wie Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt werden und wie schon fast missbräuchlich mit ihnen umgegangen wird.

Ein weiterer Aspekt bei Euphemismen ist, man verniedlicht, romantisiert und verharmlost Behinderungen und das Erleben von Betroffenen. Es gibt Gründe, warum man für sich oder das Kind einen Grad der Behinderung oder einen Pflegegrad beantragt. Das macht man doch nicht, weil alles so schwer in Ordnung ist. Genauso fällt im Bezug auf Autismus gerne mal der Begriff „Superkraft“, den ich genauso wenig für mich annehmen kann. Wenn alles so super ist, benötigt man die oben genannten Unterstützungsformen nicht.

Ich weiß sehr wohl, warum und aus welcher Intention heraus so etwas entsteht. Ich kann den Grundgedanken verstehen. Insbesondere Kinder möchten aufgrund ihrer Behinderung nicht auffallen (bei autistischen Kindern erlebt man das zb. oft, indem sie Kopfhörer oder eine Schulbegleitung ablehnen). Die Erfahrungen im Alltag spielen da natürlich eine große Rolle, dem bin ich mir bewusst. Ich weiß, welche wirklich schlimmen Traumata Kinder dadurch erleben können. Und gerade für solche Situationen ist so etwas sicher hilfreich, zumindest als Überbrückung. Man kann von traumatisierten Kindern nicht verlangen, dass sie eine „gesunde“ Einstellung zu dem Thema haben, in dem Sinne, dass sie den Fehler nicht bei sich oder der Behinderung suchen. Ich will auch keinesfalls individuelle negative Erfahrungen runterspielen. Ich möchte dafür sensibilisieren, warum es nicht hilfreich ist, wenn solche Dinge quasi inflationär genutzt werden.

Meine Behinderung sagt nichts über meinen Wert als Mensch aus. Sie sagt nur aus, dass es Bereiche im Alltag gibt, in denen ich an der Teilhabe gehindert bin. Ich persönlich habe allerdings schon genug damit zu kämpfen, dass meine Einschränkungen auch anerkannt und überhaupt wahrgenommen werden. Ich denke, gerade Menschen mit unsichtbaren Behinderungen wird mit solchen Euphemismen noch weniger geholfen. Ihnen wird ohnehin schon zu oft ihr Leidensdruck und ihre Einschränkungen abgesprochen.

Jetzt mag sich das so anhören, als würde ich mich komplett über meine Behinderung oder als behinderte Person definieren. So ist es gar nicht. Bei uns im Alltag spielt das erst mal keine Rolle, weil es wie selbstverständlich dazu gehört. Selbst mein Sohn spricht über seinen Autismus und seine Behinderung in ähnlicher Form, wie er es über seine Haarfarbe tun würde. Er würde nie auf die Idee kommen, heimlich zu stimmen, keine Kopfhörer tragen zu wollen oder sich selbst die Schuld für seine negativen Erlebnisse zu geben. Erst recht nicht würde er sich krampfhaft anpassen, damit er keine „Angriffsfläche“ mehr bietet. Ich finde das eine wunderbare Art von Selbstverständnis. Mit Sicherheit konnten wir als Eltern das nur zu einem gewissen Teil beeinflussen, vieles ist bestimmt auch charakterabhängig. Ich will also nicht sagen, dass Eltern ihren Kindern nur eine gesunde Basis mitgeben müssen, und dann kommen solche Probleme gar nicht erst auf. Damit würde ich sehr vielen Eltern unrecht tun, denn so viele versuchen jeden Tag nichts anderes, als ihrem Kind ein positives Selbstverständnis zu vermitteln. Genau diese Eltern, deren Kindern so etwas sehr schwer fällt, brauchen die Unterstützung von Betroffenen, die den Weg positiv begleiten und versuchen, das gesellschaftliche Bild von Behinderungen zu verändern.

Deswegen möchte ich so gerne hin zu mehr Akzeptanz und Selbstverständlichkeit, aber die fängt bei uns selbst an, wir müssen sie vorleben.

Anmerkung: Nicht alle Menschen mit einer Behinderungsehen sich als behindert an. Das ist für mich valide, denn nur die Betroffenen selbst können entscheiden, ob sie sich eingeschränkt fühlen.