Homeschooling mit autistischen Kindern im Lockdown – Glücksfall oder Katastrophe?

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich kenne bei autistischen Kindern im Bezug auf den Lockdown und das daraus folgende Homeschooling nur zwei Extreme. 

Die einen blühen regelrecht auf und machen unglaubliche Entwicklungsschritte, die durch den Alltagsstress so nie möglich waren. Die anderen entwickeln massive psychische Probleme (Ängste, Zwänge, Depressionen, bipolare Störungen, Essstörungen, Schlafstörungen) oder machen große Rückschritte. Sicher ist, ganz so einfach, wie gerade auch wir autistischen Menschen am Anfang ironisch meinten, ist es dann doch nicht. Im ersten Moment dachte ich auch, dass mir der Rückzug, die wenigen sozialen Kontakte, und der fehlende Austausch nicht viel ausmachen würde. Ich kann zwar tatsächlich auf einiges an sozialer Interaktion verzichten, aber eben nicht auf alles. Im Bezug auf meine Angststörung habe ich das Gefühl, vieles neu erlernen zu müssen. Am meisten macht mir allerdings die Unsicherheit und die fehlende Planbarkeit zu schaffen. Das entzieht sich meiner Kontrolle und das kann ich nur schwer aushalten. Autistische Kinder tun sich mit der Situation um einiges schwerer. Ständig wechselnde Rahmenbedingungen, bei denen keine Rücksicht auf ihre Bedürfnisse genommen werden kann, sind gepaart mit autistischen Problemen eine explosive Mischung. 

Die Probleme autistischer Kinder werden in der Pandemie aber quasi nicht thematisiert. Als würde sie nicht stattfinden. Während des ersten Lockdowns fielen sämtliche Förder- und Unterstützungsangebote weg. Diese finden mittlerweile zum größten Teil wieder statt, aber der Zugang ist durch allerlei Auflagen und Hygienekonzepte erschwert. Diese stelle ich zwar nicht in Frage, aber die Praktikabilität im Alltag muss sicher thematisiert werden. Barrierefrei ist das für einige autistische Kinder nicht. 

Manchmal frage ich mich, wie man so blind für die Probleme autistischer Kinder sein kann. Und dabei ist es egal, ob es diejenigen trifft, die unter dem Lockdown leiden oder diejenigen, die in dieser Phase besonders gut zurecht kommen. Denn gerade für Letztere bedeutet das leider viel zu oft, dass diese Zeit begrenzt ist, und sie mit einem Mal wieder einer Fülle an sozialen und sensorischen Anforderungen ausgesetzt werden. Verständnis dafür, dass sie hier vor einer immensen Aufgabe stehen und diese möglicherweise nicht problemlos meisten können, gibt es selten. 

Die einen machen also Rückschritte. Sie haben sich ihren Status Quo hart erarbeiten müssen, viel härter als die meisten neurotypischen Kinder. Eine positive Entwicklung ist immer abhängig von optimalen Bedingungen, die von jetzt auf gleich weggefallen sind. Das Homeschooling an sich beeinflusst das Ganze oftmals noch negativ. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, wie unglaublich schwer sich manche Kinder mit dieser Form des Unterrichts tun. Die täglichen 45 Minuten im Homeschooling waren hier so schlimm, dass sowohl mein Sohn, als auch ich massiven Leidensdruck entwickelten. Ich kann gut für die autistischen Bedürfnisse meines Sohnes einstehen, aber ich kann keine Schule ersetzen. Ich musste mir eingestehen, dass ich in diesem Punkt meinem Kind nicht gut getan habe. Rückschritte waren hier bei beiden Lockdowns an der Tagesordnung. Alltagskompetenzen, die plötzlich wegfielen, Selbstverletzung, Ängste, Zwänge und der komplette soziale Rückzug konnten von uns Eltern kaum aufgefangen werden. Da dies aufgrund unserer individuellen Geschichte sehr sorgsam beobachtet und begleitet werden muss, haben wir mit der Schule die Vereinbarung treffen können,  bei einem neuerlichen Lockdown nicht ins Homeschooling wechseln zu müssen. Aufgrund einer Kleinstklasse ist dies für uns vertretbar. Dennoch müssen wir immer abwägen zwischen einer potentiellen Gefahr durch eine Infektion und dem möglichen psychischen Schaden, den unser Kind nehmen würde, sollte es wieder ins Homeschooling gehen müssen. 

Aber immerhin: Wir haben das Glück, eine sehr engagierte Schule im Hintergrund zu haben, mit LehrerInnen, die immer mit uns im Austausch sind und flexibel auf die Situation reagieren. 

Aber viele andere Kinder bekommen diese Möglichkeit nicht, in der Krise schnell reagieren zu können. Da kann man schon froh sein, wenn die Not des Kindes überhaupt gesehen und anerkannt wird. Es ist leider nicht selten, dass ein autistisches Kind aktuell beispielsweise eine Angststörung entwickelt, sich immer mehr zurück zieht und keinerlei Hilfe erhält.

Gleichzeitig sind die Bedingungen derzeit an den Schulen meist alles andere als optimal. Wechselunterricht mit wechselnden Zeiten, LehrerInnen oder der Lerngruppe sind regelrechtes Gift für Kinder, die in besonderem Maße auf Beständigkeit und Sicherheit angewiesen sind. Oft treffen unsere Kinder dann auch noch auf Lehrkräfte, die mit der individuellen Geschichte und ggf. Problematik nicht umgehen können oder teilweise auch nicht bereit sind, sich darauf einzustellen. Ist ein Kind im Homeschooling in der Krise, dann ist auch ein enger Kontakt zur Schule unerlässlich. Dasselbe gilt für die Zeit des Wechselunterrichts oder der kompletten Öffnung der Schulen. Man muss immer im Austausch bleiben und ggf. flexibel reagieren können. Manche Schulen wollen das nicht, anderen sind aufgrund der Umstände die Hände gebunden. Wenn LehrerInnen diesen Kontakt aber generell ausbremsen, dann ist das fahrlässig. So tragen auch einige LehrerInnen (zum Glück ist das nicht alltäglich) zu einer Destabilisierung von Kindern bei, die eigentlich von ihnen und der Zusammenarbeit abhängig sind.

Ich weiß, die Bedingungen sind für alle Beteiligten schwer und den meisten kann man schlicht keinen Vorwurf machen. Aber es sind vor allem Kinder mit Behinderungen, die auf der Strecke bleiben. Während viele andere verhältnismäßig einfach zum Alltag zurück kehren können, ist dies für autistische Kinder nicht so ohne weiteres möglich. Die veränderte Struktur bzw. Rahmenbedingungen, Bezugspersonen, die wegfallen (viele SchulbegleiterInnen haben ihre Stelle aufgeben müssen), Maskenpflicht (die entweder sensorisch schwer umzusetzen ist, oder besondere Ängste auslöst, weil man andere Menschen und deren Intentionen noch schlechter erkennen kann, als ohnehin schon) und der plötzliche Anstieg der Anforderungen (ein Schultag bringt sensorisch besonders große Herausforderungen mit sich), sind zwar für alle autistischen Kinder nicht einfach, aber insbesondere diejenigen, die im Homeschooling regelrecht aufgeblüht sind, tun sich jetzt hier besonders schwer. Jetzt sind sie es, die mit psychischen Problemen, wie Ängste und Depressionen reagieren, die psychosomatische Störungen entwickeln. Diese autistischen Kinder leiden dann besonders, weil sie über Monate hin eine nicht gekannte Phase der Ruhe und Entspannung erfahren haben. Sie hatten plötzlich Kapazitäten für anderen Entwicklungsschritte, können beispielsweise wieder mit der Hand schreiben, können sich auf neue Anforderungen einlassen, benötigen vllt. keine Windel mehr, oder sind in der Lage soziale Kontakte innerhalb der Familie zu knüpfen (während sie sonst maximalen Rückzug suchten). All das nimmt man diesen Kindern. Oft genug scheint nicht klar zu sein, was man damit anrichtet. Und idealerweise sollen sie ohne weiteres mit diesem Einschnitt zurecht kommen. Gelingt es ihnen nicht, ist das Unverständnis für ihre Situation oftmals groß. 

Völlige Nichtbeachtung autistischer Bedürfnisse gepaart mit blindem Aktionismus können einen großen Schaden anrichten. Und das gilt für alle Situationen während dieser Pandemie. Oft genug sind es die Kinder, denen die Verantwortung dafür auferlegt wird, unter diesen Rahmenbedingungen nicht so funktionieren zu können, wie die Gesellschaft es gerne hätte. Man stellt ein Konzept zur Verfügung und verlangt, dass sie sich ohne Weiteres einfügen können. 

In den letzten Monaten war in den Medien oft genug zu lesen, welche psychischen Probleme Kinder durch den Lockdown entwickeln können. Ich mag das nicht klein reden, denn das ist sicher vermehrt der Fall. Aber wenn man dann auf die Situation autistischer Kinder schaut, dann ist diese Problematik um ein Vielfaches höher. Sie bringen ja ohnehin schon Bedingungen mit, die es ihnen erschweren, sich an Situationen anzupassen. Und diese Bedingungen machen auch während der Pandemie keine Pause, im Gegenteil, sie potenzieren sich mitunter. Gleichzeitig fallen Hilfen und Bezugspersonen weg, im Grunde ist es eine einzige Katastrophe. 

Ein weiteres Problem ist, dass einige LehrerInnen sich mitunter schlecht auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einstellen können oder wollen. Wie bereits erwähnt ist der enge Kontakt zu den Eltern wichtig. Bereits Kleinigkeiten im Ablauf können zur Destabilisierung beitragen. Es ist wichtig, bereits zeitnah auf solche Dinge zu reagieren und gemeinsam nach Lösungen zu schauen. Hat ein autistisches Kind beispielsweise zusätzlich noch selektiven Mutismus, ist es kontraproduktiv auf ein Telefongespräch zu bestehen und am Ende den Austausch noch zu benoten. So etwas zerstört Vertrauen in einer Phase, in der unsere Kinder besonders auf Sicherheit gebende Bezugspersonen angewiesen sind. Die individuellen Beeinträchtigungen müssen in die Planung, den Austausch mit dem Kind und die Anforderungen mit einbezogen werden. Besteht man allerdings auf derlei Dinge, sind das zusätzliche Barrieren, und es ist nicht verwunderlich, dass Betroffene sich schikaniert fühlen. 

Wie bei vielen anderen Minderheitengruppen auch, finden die Probleme autistischer Kinder, aber auch generell von solchen mit Behinderungen, kein Gehör. Es ist, als wären sie nicht da, ähnlich wie die Probleme ihrer Eltern. Von uns betroffenen Familien wird immer ein besonders hohes Maß an Flexibilität verlangt. Längst nicht jeder Elternteil kann einem Beruf nachgehen, denn viel zu oft gibt es kein Betreuungsangebot für unsere Kinder. Wir sind immer auf Abruf. Es wird von uns verlangt, bei jeder schwierigen Situation die Kinder jederzeit abholen zu können. Andere werden nur minimal beschult. Die Probleme, vor die viele Eltern derzeit gestellt sind, nämlich dass sie permanent für die Betreuung ihrer Kinder da sein müssen, ist für viele von uns Alltag. 

Die Flexibilität, die von uns als Eltern aber auch von unseren Kindern verlangt wird, steht dem starrem Schulsystem entgegen. Während die einen am Homeschooling kaputt gehen, geht es den anderen so, wenn sie wieder in den Klassenverband zurückkehren sollen. Oftmals stehen Eltern hilflos daneben, weil sie wissen, was ihren Kindern gut tut, aber aufgrund gesetzlicher Vorgaben dies nicht so ohne weiteres umsetzen können.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie der derzeitige Stand ist, denn im Grunde gelten überall andere Bestimmungen, die auch noch jeder in seinem Rahmen unterschiedlich auslegt. Der Wunsch vieler Eltern autistischer Kinder ist es beispielsweise, dass ihre Kinder weiterhin von zu Hause unterrichtet werden können, sollten sie davon profitieren. Es müsste auch außerhalb einer Pandemie möglich sein dürfen, sein Kind vom Präsenzunterricht befreien zu lassen. Viele Eltern stellen nicht mal den Anspruch, dass ein/e  HauslehrerIn die Aufgabe der Beschulung übernimmt. Schließlich sind sie es gewohnt, ihre Kinder umfassend aufzufangen. Und ja, es gibt eben gerade auch unter autistischen Kindern einige, für die es keine besseren Umstände geben könnte, als zu Hause. Dort können sie in Ruhe, ohne Reizüberflutung und in einer sicheren Umgebung lernen. Sie sind nicht dem Stress sozialer Interaktion ausgesetzt, müssen kein Mobbing ertragen, keine Ausgrenzung oder Unverständnis von LehrerInnen, die ihre Not nicht erkennen oder verstehen. 

Es gibt allerlei Petitionen hierzu, aber wie gesagt, ich bin da nicht auf dem neuesten Stand, meine aber, dass es hierzu noch keine gesonderten Regelungen gibt, die auch auf lange Sicht umgesetzt werden sollen. 

Gleichzeitig wäre es wichtig, diejenigen aufzufangen, denen das Homeschooling eher schadet. Für diese Kinder müssen Lösungen gefunden werden. Nicht jede Familie hat das Glück, eine flexible Schule im Hintergrund zu haben, die völlig auf die Bedürfnisse des Kindes reagiert. Andernfalls wird sich das in einigen Monaten rächen, und die Kinder haben möglicherweise viele Jahre mit den Folgen zu kämpfen. Unsere Kinder sind ohnehin anfälliger für psychische Erkrankungen als neurotypische Kinder. Sie benötigen im Grunde einen besonderen Schutz und endlich auch Anerkennung dessen, was ihren Alltag bestimmt und so schwer macht. 

So oder so sind es unsere autistischen Kinder, die im Vergleich zu neurotypischen Kindern auf der Strecke bleiben. Sie erfordern im Alltag mehr Flexibilität und Einfühlungsvermögen, damit sie die Situation einigermaßen schadlos überstehen können. Und genau dafür gibt es meist, wie eigentlich schon immer, viel zu wenig Kapazitäten. Ich will gar nicht behaupten, dass es immer an LehrerInnen liegt, die sich zu wenig engagieren. Es ist dieses System, das ihnen immer wieder abverlangt, sich maximal anzupassen, und das dabei mehr Schaden zufügt, als dass es ihnen hilfreich wäre. 

Anmerkung: Dieser Text dient nicht als Grundlage, Maßnahmen an sich zu hinterfragen. Er soll sensibilisieren für die Probleme autistischer Kinder, die nahezu kein Gehör finden und kaum beachtet werden. Er soll den Hilfebedarf aufzeigen in einer Zeit, in der auffällig vielen autistischen Kindern die Unterstützung gekürzt oder gestrichen wird.