Es ist vielen sicher gar nicht bewusst, aber Eltern autistischer Kinder müssen sich viel mehr hinsichtlich der Erziehung ihrer Kinder verteidigen, als das andere Eltern müssen. Selbst bei Familien ohne Kind mit Behinderung nimmt das teilweise schon schlimme Züge an, aber meine Erfahrung ist, wir und andere Eltern in ähnlichen Situationen, müssen uns permanent der Kritik des gesamten Umfelds stellen. Sobald ein Kind Hilfen zur Teilhabe erhält, wird jede Situation zum Anlass genommen, um Entwicklung und Selbstständigkeit des Kindes anzumahnen. Es gibt Kinder, die werden bis zum Abitur von ihren Eltern bis vor die Schule gefahren. Einem Elternteil eines autistischen Kindes kann es passieren, dass es bereits in der Grundschule deswegen zurecht gewiesen wird.
Ich trug an der Regelschule meinem Sohn beispielsweise den Ranzen, da er insbesondere nach Schulschluss keine Kapazitäten für irgendwas hatte. Viele andere Eltern taten dies auch. Aber bei mir hieß es dann, das müsse ich schon meinem Kind überlassen.
Wenn ich bei einem HPG einmal offen sagen würde, dass ich meinen Sohn komplett frei über Medien verfügen lasse, könnte ich mir sicher anhören, wie schädlich das doch wäre, das Kind müsse ja auch mal an die frische Luft…usw. All diese gutgemeinten Ratschläge eben. Ihr wisst schon, das sind diese Dinge, die gemeinhin nichts mit unserer Lebensrealität zu tun haben.
Dabei ist vielen überhaupt nicht klar, welch positiven Effekt Medien auf unsere Kinder haben können, abgesehen davon, dass sie sich wunderbar eignen, um abzuschalten und runterzufahren. Bei uns sind Medien verbunden mit Rückzug ein echter „Energielieferant“. Außerdem kann man sich so auch wunderbar dem Spezialinteresse widmen, indem man sich Dokus oder Videos auf YouTube anschaut.
YouTube ist eine der besten Plattformen hierfür. Eine Fülle an Dokumentationen und Querverweisen eröffnen quasi unbegrenzte Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen oder zu erweitern. Auch die einzelnen Streaming-Dienste bieten hier tolle Reportagen, gerade zu den Sachthemen, an.
Schon länger fällt mir aber auf, dass es einen weiteren positiven Nebeneffekt gibt: Mein Sohn lernt durch Filme und Serien (und das höre ich auch von vielen anderen Eltern autistischer Kinder) wahnsinnig viel über soziale Dinge. Wir legen einerseits sehr viel wert darauf, dass unser Sohn sich so wenig wie möglich anpassen muss, im Sinne von Maskieren autistischer Verhaltensweisen. Dennoch ist es durchaus hilfreich, wenn er lernt, gewisse Dinge im Umgang mit anderen Menschen einzuschätzen.
Im Kontakt mit anderen Menschen fällt es vielen autistischen Kindern beispielsweise schwer, Mimik, Gestik und Stimmlage entsprechend einzuordnen. Das führt eben auch dazu, dass Dinge in der Kommunikation nicht verstanden oder registriert werden.
Soziale Kontakte an sich sind schon sehr anstrengend, es gibt unwahrscheinlich viele Dinge zu beachten, so vieles läuft gleichzeitig und muss genauso schnell verarbeitet werden, und dann muss man auch noch affektiv und schnell darauf reagieren können. Das autistische Hirn empfängt nicht nur diese Dinge, sondern auch eine Vielzahl von Reizen, die ebenfalls Informationen ans Gehirn senden. Alleine, was es im Gesicht eines Menschen alles zu sehen gibt…ein Grund für mich, warum ich ungern in die Augen schaue. Es ist mir zu viel Input und lenkt mich ab von dem, was ich sagen möchte.
Jetzt heißt es ja oft, autistische Kinder müssen soziale Kontakte haben, damit sie lernen können, mit anderen Menschen umzugehen. Eine typische Sichtweise neurotypischer Menschen. Ein Mensch ohne soziale Kontakte ist ihnen irgendwie unheimlich und überhaupt kann das ja nicht erstrebenswert sein. Dass einige AutistInnen dazu ihre ganze eigene Sichtweise haben, wird meist bestenfalls registriert, aber oft schlicht nicht als valide angesehen.
Im Kontakt mit anderen Menschen gibt es wahnsinnig viele Stolperfallen, mehrdeutige Signale werden ausgesendet und zurück bleibt nicht selten ein autistisches Kind (oder auch Erwachsener), das/der nicht versteht, was da gerade passiert ist. Ich merke selbst bei mir ständige Verunsicherung darüber, wie ich Dinge einzuordnen habe. Das ist kein schönes Gefühl, es macht Angst und irgendwie auch misstrauisch. Es passiert immer wieder, dass ich Situationen falsch und nahezu blauäugig einschätze, und im Anschluss stellt sich dann heraus, dass ich die Absichten meines Gegenübers völlig falsch interpretiert habe. Gerade das ist ein Grund dafür, warum ich oft und schnell misstrauisch werden kann. Ich fühle mich im Umgang mit Menschen nie hundertprozentig sicher. Auch merke ich immer noch nicht sofort, wenn meine Grenzen überschritten werden und ich lasse zu viel zu.
Für autistische Kinder ist auch der Kontakt zu anderen Kindern oftmals sehr stressbehaftet. Kinder sind nicht berechenbar, machen eigentlich so gar nicht das, was man von ihnen erwartet und sind oft laut, hektisch und wild. Das bringt also Unsicherheiten mit sich, auf die gerade viele autistische Kinder nicht unbedingt Lust haben, obwohl es nicht so ist, dass sie nicht auch gerne Freundschaften hätten. Es ist ein Trugschluss zu denken, dass AutistInnen am liebsten nur für sich und „in ihrer eigenen Welt“ (*) leben. Aber da vieles im Alltag um ein Vielfaches anstrengender ist, auch die sozialen Kontakte, benötigt man eben viel Rückzug und Alleinzeit.
Der Kontakt zu anderen ist also nicht unbedingt ein gutes Übungsfeld!
Da ist es doch wunderbar, dass ein Kind das über das Anschauen von Filmen oder Serien um einiges stressfreier erleben kann. Da wird sozusagen die Theorie aufgezeigt, auf die man dann im Alltag zurück greifen kann.
Ich bemerke beispielsweise immer wieder, dass mein Sohn in Filmen oder Serien Mimik und auch Stimmlage besser einordnen kann, und somit auch die Absichten eines Charakters erkennt. Etwas, das im Alltag oft für Verwirrung sorgt.
Kindern wird ganz viel über Freundschaft, Zusammenhalt, Gerechtigkeit aber auch Egoismus, Arroganz oder Hinterhältigkeit vermittelt. Mein Sohn hat diesbezüglich sehr viel über die Ninjago-Serie gelernt. Was macht man beispielsweise, wenn jemand in Schwierigkeiten steckt? Wie sieht es mit Rache aus (das ist bei uns ein ganz großes Thema, was wir so immer wieder aufbereiten können)? Welches Verhalten ist auf welche Art einzuordnen? Ist es ok, andere Menschen zu hintergehen? Welche Menschen meinen es gut mit einem und welche nicht? Wer lügt eventuell? War etwas ironisch gemeint oder was bedeutet ein bestimmtes Sprichwort? Aber auch die Beweggründe für das Handeln einzelner Personen werden oft deutlicher. Als Zuschauer bekommt man ja häufig einen kompletten Blick über die Situation und kennt Hintergründe, die bei der Einordnung der Intention helfen können.
All das sind Dinge, die im Alltag in einer kleinen Situation sofort und intuitiv erfasst werden müssen. Das ist unfassbar schwer, wenn man viel mehr wahrnimmt, als andere Menschen und deswegen im Kontakt mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat.
Häufig schauen wir auch zusammen einen Film und müssen zwischendrin immer wieder eine Szene bzw. einen Dialog besprechen. Bei uns wird ein Film nicht einfach nur angeschaut, sondern es werden viele Dinge thematisiert, die neurotypische Menschen entweder einfach so erfassen, oder die ihnen sogar unwichtig erscheinen. Dabei sind es oft die Kleinigkeiten, die wichtig sind, und auch einen Lerneffekt haben können.
Etwas ältere Kinder profitieren enorm von den Möglichkeiten, sich über Onlinespiele vernetzen und Freundschaften knüpfen zu können. Da die Kontaktaufnahme im Real Life doch durchaus erschwert ist, und mitunter für autistische Kinder schlicht nicht barrierefrei ist, finden sie hier eine wunderbare Alternative. Dasselbe gilt ab einem bestimmten Alter für die sozialen Netzwerke. Man kann sich in Gruppen oder auf themenspezifischen gezielt mit Gleichgesinnten austauschen, und generell einfacher in Kontakt kommen. Auch auf diese Weise können sehr innige Beziehungen entstehen. Für mich persönlich sind die sozialen Netzwerke ein wunderbares Hilfsmittel für die Kontaktaufnahme. Auch in Kontakt bleiben fällt mir dadurch wesentlich leichter.
Also lasst euren Kindern ihre Filme, Serien und auch Videospiele (natürlich altersgerecht). Sie können auf vielfältige Art und Weise davon profitieren, egal ob es um Ausgleich und Rückzug vom Alltagsstress geht, um Wissensaneignung, das Erlernen von sozialen Zusammenhängen, oder als Hilfsmittel zur Kontaktaufnahme dient.
(* Anmerkung: ich persönlich mag den Ausdruck „in einer eigenen Welt leben“ überhaupt nicht. Ich kenne keine autistische Person, die das von sich sagt. So etwas äußern nur Menschen, die in dem Moment keinen Zugang zum Betroffenen finden und geben damit auch ein Stück weit ihrer Verantwortung ab. Gerade aber bei Kindern liegt es nicht in deren Verantwortung einen Zugang zu finden oder zu ermöglichen, das ist Aufgabe der (erwachsenen) Bezugsperson.)