Seit einigen Jahren berate ich in Facebook-Gruppen zum Thema Autismus. Für mich war es schon immer wichtig, mich mit Gleichgesinnten auszutauschen, zu vernetzen und dadurch neue Sichtweisen zu erhalten. Als mein Sohn kurz vor der Diagnostik stand, meldete ich mich in einer Facebook-Gruppe für Eltern autistischer Kinder an. Nach und nach wurden mir Blogs und weitere Gruppen vorgeschlagen, unter anderem die beiden Gruppen, die ich aktuell mit moderiere. Insgesamt bin ich in etwa 15 autismusspezifischen Gruppen. Gerade auch in der Anfangszeit, als ich noch völlig unwissend an dieses Thema herangegangen bin, waren die Gruppen eine wichtige Stütze zur seriösen Informationsbeschaffung. So erfuhr ich schnell, dass man bestimmte Therapiemethoden (in der Hauptsache ABA – Applied Behavior Analysis) meiden sollte, und wie die Schwurbel- und Verschwörungsszene versucht, in dem Bereich an Einfluss zu gewinnen, und das teilweise auch hat. Die Falschbehauptung beispielsweise, die MMR-Impfung löse Autismus aus, hält sich hartnäckig und hat zu einem deutlichen Rückgang bei Impfungen und zu einer allgemeinen Impfskepsis geführt.
Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass ich selbst im Spektrum bin. Aber der Kontakt zu anderen autistischen Menschen in den Gruppen, insbesondere zu Frauen im Spektrum, ließ mich dann doch erkennen, dass mein Sohn nicht der einzige Autist in unserer Familie ist. Zwei Jahre nach meinem Sohn erhielt ich dann selbst die Diagnose.
In dieser Hinsicht waren die Gruppen sehr hilfreich. Ich habe nicht nur ein völlig neues Selbstverständnis für den Umgang mit meinem Sohn entwickelt, sondern auch den Weg zu meiner autistischen Identität gehen dürfen. Der Kontakt zu anderen autistischen Menschen hat nach wie vor positiven Einfluss auf mein Seelenheil.
Es ist aber, wie so vieles im Leben, ein zweischneidiges Schwert. Im Folgenden beschreibe, wann und wie die Arbeit in den Gruppen sehr erschöpfend, nervenaufreibend und somit zur Belastung werden kann. Manche Themen triggern auch uns ModeratorInnen stark. Das geht dann einigen Mitgliedern nicht anders. Ich merke immer sehr deutlich an den Reaktionen anderer Mitglieder, ob jemand, meist unbeabsichtigt, einen Nerv getroffen hat. Dazu bringen alle AutistInnen in den Gruppen ihre eigene Geschichte mit. Sehr viele von ihnen haben in ihrer Kindheit oder Jugendzeit Traumata erfahren. Ausgrenzung, Mobbing, diskriminierende Erfahrungen und erzwungene Anpassung sind Dinge, die die meisten von uns kennen. Nicht wenige haben im Laufe ihres Lebens aufgrund dessen komorbide Erkrankungen oder Störungen entwickelt. Psychische Erkrankungen oder chronische Schmerzen gehören zum Alltag vieler autistischer Menschen. Diese prägenden Erfahrungen vieler autistischer Mitglieder darf man nicht aus dem Blick verlieren, wenn sie in den Gruppen meist Eltern oder aber Fachkräfte beraten. Es gibt sehr viele Dinge, für andere meist Kleinigkeiten, die bei AutistInnen immer wieder Triggerpunkte drücken. Das kann ein Nebensatz sein, oder auch die Art und Weise, wie man auf Kommentare reagiert. Es entsteht häufig der Eindruck, dass die autistische Sichtweise abgetan oder nicht ernst genommen wird. Insbesondere dann, wenn Eltern oder Fachkräfte mit dem Ziel in die Gruppen kommen, Lösungen für „unerwünschte“ Verhaltensweisen zu bekommen. Aus unserer Sicht bieten wir hier keine Lösungen, sondern erörtern die mögliche Ursache. Diese ist es dann auch, die man angehen muss, nicht die „störenden“ Verhaltensweisen. Das ist häufig der Punkt, an dem man merkt, ob Eltern an wirklichem Austausch, Input und Perspektivwechsel interessiert sind. Sind sie das nicht, reagieren sie herablassend, ignorant und abwertend. Ein Austausch auf Augenhöhe ist dann nicht mehr möglich. Eine Userin beschrieb dieses Verhalten neulich als jovial, und das trifft es sehr gut. Der Austausch wird dann oft abgewürgt mit Aussagen wie „auch ein autistisches Kind muss xy lernen“ oder „du nutzt deine Behinderung/Diagnose als Ausrede“. Diese zwei Sätze sind für mich ein ganz klares Signal, dass ich hier höchstwahrscheinlich niemanden erreichen werde. Sie sind häufig das Ende einer ganzen Reihe von diskriminierende Aussagen, mit denen DiskussionspartnerInnen uns ganz klar signalisieren wollen, wo wir im Verhältnis zu ihnen stehen, wie sie uns einschätzen und dass sie unsere Argumentation für absolut inakzeptabel halten. Nicht alle Angehörigen oder gar Fachleute wollen sich ausgerechnet von autistischen Menschen erklären lassen, wie sie sich den Umgang mit autistischen Bedürfnissen vorstellen. Das geht dann nämlich doch zu weit (Sarkasmus). Ich merke generell sehr schnell, wie sich eine Diskussion mit der Zeit verändert, und welchen Einfluss bestimmte Dinge auf autistische Mitglieder haben. Gereizte Stimmung und Trigger kann ich den Kommentaren sehr schnell entnehmen. Ich bin fast ausschließlich in Gruppen aktiv, die von AutistInnen geleitet werden, da diese doch am meisten an den Bedürfnissen der Kinder interessiert sind. In vielen anderen Gruppen geht es meist nur darum, dass Eltern sich gegenseitig bedauern, den Autismus ihrer Kinder verteufeln oder sich generell über ihre autistischen Mitmenschen echauffieren. Da ist für mich sehr schnell eine Grenze erreicht, da ich solche Aussagen emotional nur schlecht verarbeiten kann. Ich muss an keinem Austausch mitwirken, bei dem sich manchmal über Tage hinweg Menschen gegenseitig darin bestätigen, wie schlimm autistische Menschen doch sind.
Wir formulieren in unseren Gruppen schon sehr eindeutig, wie unsere Beratung ausgerichtet ist. Wir orientieren uns nicht an gesellschaftlichen Normen, sondern immer an den Bedürfnissen des autistischen Kindes. Dazu gehört auch, dass wir bestimmte Therapieformen wie ABA oder auch die Festhaltetherapie ablehnen. Nicht immer können Eltern oder auch Fachkräfte das nachvollziehen, weil die Ergebnisse unter Umständen nach außen hin (!) ja doch recht erfolgversprechend wirken. Sie sehen nur das vermeintliche Ergebnis (das bei genauem Hinschauen oft keines ist, oder ganz simpel ein Teil der individuellen Entwicklung), aber nicht, was es ihre Kinder kostet. Das Schlimme an so einer Diskussion finde ich immer, dass Betroffene dann dazu genötigt werden, ihre eigenen traumatischen Erlebnisse zu schildern, um zu verdeutlichen, worum es ihnen geht. Damit macht man sich in der Beratung auf eine Art angreifbar, weil man intimste Erlebnisse und Gefühle teilt. Noch wesentlich dramatischer ist es dann, wenn man auch nach einer solchen Schilderung nicht ernst genommen und an dem Standpunkt festgehalten wird. Das kann einen schon sehr an die Belastungsgrenze und darüber hinaus bringen. Folglich passiert es immer wieder, dass AutistInnen den Eindruck gewinnen, ihre Expertise spiele keine Rolle, mit dem Ergebnis, dass sie sich aus der Beratung zurück ziehen. Denn das ist frustrierend und unglaublich respektlos uns gegenüber und gerade auch das triggert viele von uns enorm. Es ist die Art und Weise, wie einfach zu oft mit uns, unseren Bedürfnissen und unseren Ressourcen umgegangen wird.
Sehr schwierig wird es für uns, wenn wir ganz konkret lesen müssen, wie negativ Eltern ihre Kinder betrachten, zu welchen Dingen Kinder wider ihrer autistischen Bedürfnisse zu Hause oder in Therapien genötigt werden, oder welche Konsequenzen sie wegen ihres autistischen Verhalten tragen müssen. Ich habe von Kindern gelesen, die man auf dem Boden schlafen ließ, die man in ihren Betten fixierte, denen man Lebensmittel aufzwang, obwohl sie sich davon erbrachen, die man stundenlang der Festhaltetherapie unterzog, die von LehrerInnen vor der ganzen Klasse gedemütigt wurden, deren Eltern die Annahme der Diagnose verweigerten, denen gedroht wurde, sie ins Heim zu stecken, die in ihren Zimmern eingeschlossen wurden, die von ihren Eltern mit MMS-Einläufen gequält wurden, die emotional erpresst oder bestraft wurden, Kinder denen jedes einfache Hilfsmittel in der Schule verboten wurde, und solche, die zu neurotypischem Verhalten gezwungen wurden, obwohl es für sie eine Tortur war. Von einigen dieser Dinge lese ich täglich. Und das ist tatsächlich etwas, was sich nur schwer aushalten und verarbeiten lässt. Das kann man in Anbetracht des eigenen Stresses, dem man täglich ausgesetzt ist, nicht immer oder für lange Zeit machen.
Ich merke sehr schnell, wie sich eine Diskussion mit der Zeit verändert, und welchen Einfluss all diese Dinge auf autistische Mitglieder haben. Manchen Eltern ist nicht bewusst, wie ihre Art mit uns umzugehen, uns immer wieder stresst oder gar triggert (je nach eigener Geschichte, Erfahrung oder Traumatisierung). Sie verstehen nicht, welche Kompensationsleistung in solchen Momenten vollbracht werden muss. Es kann mitunter sogar vorkommen, dass Eltern unseren Autismus gegen uns verwenden, insbesondere dann, wenn ihnen die Argumente ausgehen oder wir ganz direkt ansprechen, welche Dinge wir für autistische Kinder als schädlich empfinden. Ich würde mir an dieser Stelle tatsächlich mehr Bewusstsein von Eltern für diese Problematik wünschen. Autistische Menschen gehen im Grunde permanent an ihre Belastungsgrenze, um ihnen und ihren Kindern zu helfen.
Würde sich die Beratung immer derart gestalten, dann hätte ich mich wahrscheinlich schon längst zurück gezogen und würde nur noch für meinen Blog schreiben. Glücklicherweise erreicht man in den Gruppen doch einige Menschen, die offen für den Perspektivwechsel sind, die autistischen Menschen wertschätzend begegnen, und (was ich immer besonders schön finde) ihre eigene autistische Identität finden.
Bei weitem nicht immer sind es die Eltern, die mit ihren Schilderungen eine Herausforderung darstellen. Oftmals sind die Eltern sehr verzweifelt, haben ein traumatisiertes Kind zu Hause und bekommen kaum Unterstützung, sondern im Gegenteil noch sehr viel Druck von außen. Jugendämter und Schulen sind nicht immer eine Entlastung. Die Eltern sind dann durch das Leid ihrer Kinder an sich schon an ihrer Belastungsgrenze und haben dadurch oftmals nicht mehr die Kraft, sich gegen Aussagen und Verurteilungen von LehrerInnen oder SachbearbeiterInnen zu wehren. Ihnen wird häufig unterstellt, dass sie Schuld am Zustand ihres Kindes sind. Ich denke, Nicht-Betroffene können sich gar nicht ausmalen, unter welchem Druck Eltern in solchen Fällen stehen können. Auf der einen Seite das Kind mit immensem Leidensdruck und auf der anderen Seite ein System, das versucht, die Kinder anzupassen und sie in eine gesellschaftliche Norm zu pressen, ungeachtet dessen, dass ein autistisches Kind dadurch großen Schaden davon tragen kann. Persönlich kann ich das oft nur schwer aushalten, weil ich selbst erleben musste, wie ein System ein Kind kaputt machen kann. Man fühlt sich oft hilflos ausgeliefert und ist unglaublich abhängig von denjenigen, die mit dem Kind arbeiten, sei es in der Schule oder in einer Therapie. Aber auch Entscheidungsträger wie das Jugendamt können in einzelnen Fällen die Situation noch verschärfen. Es gibt ein großes Machtgefälle innerhalb des Systems.
Schade finde ich (und ich weiß, dass viele autistische Menschen das durchaus auch als belastend empfinden), dass es bei all dem noch (!) relativ wenig Raum für den Umgang mit diskriminierenden und ableistischen Strukturen und Sichtweisen eines jeden im Alltag gibt. Das fängt nämlich schon weit früher an, als ich es oben beschrieben habe. Wir, und ich nehme mich da nicht aus, nehmen im Alltag permanent Wertungen vor, sei es durch bestimmte Begrifflichkeiten oder die Kategorisierung von vermeintlichen „Defiziten“. Hinzu kommen strukturelle Probleme in den Bereichen Bildung, Inklusion, Diagnostik und Therapien, die immer wieder Diskriminierung fördern und festigen. Das Bewusstsein dafür (wie es beispielsweise die Autistic Pride Bewegung versucht zu schaffen), wo Diskriminierung anfängt, und wie man ihr begegnen kann, ist häufig fast kaum vorhanden. Versucht man im Ansatz solche Dinge anzusprechen, wird das schnell als überzogen, unwichtig (in dem Sinne, dass es doch wichtigere Dinge gäbe) und störend empfunden. Dieser Problematik wird in der Beratung derzeit (noch) zu wenig Platz eingeräumt. Dennoch wird das, zurecht, als diskriminierend wahrgenommen und hat dann auch Einfluss auf die im Austausch befindlichen AutistInnen. Für Nicht-Betroffene sind es nur Kleinigkeiten, aber tatsächlich sind es Dinge, die wesentlichen Einfluss auf den Umgang mit autistischen Menschen haben. Ihnen sollte also mehr Raum gegeben werden.
Ich freue mich über jede Person, die ich erreichen kann. Es ist nicht leicht, immer wieder das eigene Erleben zu schildern, insbesondere wenn es sich dabei um negative Erlebnisse handelt. Umso schöner sind die Berichte von Eltern, die aufgrund der Schilderungen von AutistInnen besseren Zugang zu ihren Kindern erlangen konnten, und die so viel besser für deren Bedürfnisse auf so vielen Ebenen eintreten können. Damit haben wir unser Ziel erreicht!